Konferenzbeitrag von Dr. Nurhak Polat und Hagen Steinhauer
Im Zuge von zeitgenössischen Diskussionen und Diagnosen zum Sterben und Verfall von Demokratien werden wir häufig mit dichotomen Vorstellungen von ‚Autoritarismus‘ und ‚Demokratie‘ als eindeutig abgrenzbaren, sich gegenseitig ausschließenden Regierungsformen konfrontiert. Empirische Forschung fördert hingegen ‚sanfte‘ Übergänge, Verflechtungen und ambivalente Gleichzeitigkeiten demokratischer und autoritärer Praxen und Diskurse zutage. Diese äußern sich in der graduellen Aushöhlung demokratischer Institutionen und Prozesse ebenso wie in oft vehementen Kämpfen um die (Be-)Deutungen politischer Grundbegriffe, Wahrheitsgehalte und den Status wissenschaftlichen Wissens. Empirische Forschungspraxis ist auf vielfältige Weise – teils intendiert, teils ungewollt – mit diesen Kämpfen und Verschiebungen verstrickt und somit mit der Problematik des ‚Position-Beziehens’ und ‚Haltung-Zeigens’ verwoben.
Den Ausgangspunkt unseres Beitrages bildet die Beobachtung, dass sich diese Problematik in Forschungen entlang des Demokratie/Autoritarismus-Nexus in besonderer Dringlichkeit stellt. Auf eine ganz grundsätzliche Weise hat jedwede (Nicht-)Positionierung wissens- und zukunftspolitische Auswirkungen wie ‚Risiken’ zur Folge, beispielsweise eine Öffnung oder Schließung bestimmter Zugänge und Perspektiven, eine akademische wie individuelle ‚Gefährdung’ oder eine graduelle Verengung der individuellen wie kollektiven Positionierungsfreiräume. Anhand unserer empirischen, teils fern-anthropologischen Forschungen in ‚autoritären Geflechten‘ in der Türkei, in Frankreich und in Polen möchten wir einige Dilemmata des Position-Beziehens herausarbeiten. Uns interessieren hierbei insbesondere drei Fragestellungen:
Erstens fragen wir nach Veränderungen im Verhältnis zwischen Teilnahme und Reflexion als den beiden Grundbestandteilen jeder ethnografischen Praxis und Wissensproduktion: Ist Distanzierung überhaupt eine Option im Anbetracht kontinuierlicher Angriffe auf demokratische Institutionen oder Wissenschaftsfreiheit? Und wie gestalten sich Räume der Reflexion und Teilnahme?
Zweitens erkunden wir Möglichkeiten einer ‚kritischen Haltung‘ in Kontexten, in denen Begriffe und Wissensbestände kritischer Forschung regelmäßig durch autoritäre Akteur*innen angeeignet und umgedeutet werden.
Und drittens diskutieren wir ‚Haltung zeigen’ als eine Suche nach Perspektiven und Möglichkeiten für eine „antizipatorische Ethnografie“ (Knecht 2009). Wir fragen danach, inwiefern eine empirische Kulturwissenschaft in und gegenüber autoritären Geflechten und Zeiten vorstellbar und machbar ist, die weder ‚alarmistisch’ auf die aktuellen alltags- und forschungspolitischen Probleme hindeutet, noch diese durch ‚beschreibende’ Analysen ‚nachvollzieht’, sondern antizipiert, zukunftsorientiert mitwirkt und interveniert.