Angesichts der jüngsten Verhaftungswelle gegen Politikerinnen und Politiker der größten Oppositionspartei CHP einschließlich dem berühmten Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu und die darauffolgenden Massendemonstrationen im ganzen Land, wird in der Türkei die Frage, ob das Regime Erdoğans nun von einem kompetitiven in einen vollständigen Autoritarismus umschlägt, heiß diskutiert. Bislang konnte die CHP mit ihrem Vorsitzender Özgür Özel die Proteste erfolgreich organisieren. Die Drohung Präsident Erdoğans, die Stadtverwaltung Istanbuls und die CHP selbst unter Zwangsverwaltung zu stellen, konnten sie erfolgreich abwenden. Eine Freilassung ihrer wichtigen Vertreter zu erreichen, ist ihnen aber nicht gelungen. Zunehmend ist davon die Rede, dass die Wahlen in Zukunft abgeschafft werden könnten und Erdoğan dadurch nicht mehr abwählbar ist. Das folgende Gespräch mit Ulrike Flader gibt zu diesen und ähnlichen Fragen einige Antworten.
Dr. Ulrike Flader ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaften der Universität Bremen und beobachtet seit vielen Jahren die politischen Entwicklungen in der Türkei als Mitglied der Forschungsgruppe „Soft Authoritarianisms“.
Das Interview führte Dr. Çetin Gürer, Sozial- und Politikwissenschafter und Assoziierter am InIIS, Universität Bremen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Konflikt- und Friedensforschung, Pluralismus und Autonomiemodellen, die Kurdische Frage sowie Politik und Gesellschaft der Türkei. Er promovierte mit einer Arbeit zur Lösung des Kurdischen Konflikts in der Türkei an der Universität Ankara und publiziert als Kommentator regelmäßig zu aktuellen Fragen in der Türkei.
Zweiter Teil des Interviews. Hier geht’s zum ersten Teil.
Auch Imamoğlus Verhaftung ein Taktieren?
Cetin Gürer: Kommen wir nochmal auf die aktuellen Ereignisse zurück. Warum hat Erdoğan jetzt den Schritt, gemacht Imamoğlu verhaften zu lassen? Wozu braucht er das denn eigentlich? Ist es einfach so, dass er die Opposition managen will, damit er die Wahlen gewinnen kann? Aber es sind ja noch drei Jahre bis zu den nächsten Wahlen. Warum hat er jetzt plötzlich diesen Schritt gemacht? Und worauf zielt er eigentlich ab?
Ulrike Flader: Viele von uns hatten die kommenden Wahlen wahrscheinlich noch gar nicht richtig im Kopf. Aber die Regierung ist immer zwei, drei Schritte voraus und sie überlegen sich genau, welche Taktiken, wann Sinn machen. Ich denke, dass es tatsächlich um den Parteitag der CHP ging, der an dem Wochenende danach stattfinden und an dem Imamoğlu zum Kandidaten gewählt werden sollte.
Çetin Gürer: Wollte Erdoğan das verhindern?
Ulrike Flader: Es geht auf jeden Fall, darum der größten Oppositionspartei Steine in den Weg zu legen. Sehr interessant finde ich den Schritt, der vor der Verhaftung kam: nämlich die Annullierung Imamoğlus Universitätsabschlusses durch die Uni-Leitung. Das zu machen hat einfach den ganz praktischen Grund, weil Imamoğlu somit de facto nicht mehr die Grundvoraussetzungen erfüllt, um kandidieren zu können.
Çetin Gürer: Demnach wäre eine Verhaftung eigentlich gar nicht nötig gewesen.
Ulrike Flader: Eigentlich ja, wobei die Annullierung ja immer noch angefochten werden kann. Interessant ist außerdem dieses offensichtliche Taktiktieren um die verschiedenen Vorwürfe. Es gibt ja zwei: zum einen Terrorismus, weil die CHP mit der DEM Partei eine strategische Wahlabsprache eingegangen ist und zum anderen…
Çetin Gürer: Korruption.
Ulrike Flader: Ja, bzw. die Veruntreuung von Geldern, glaube ich. Das ist deshalb interessant, weil sich hier die Zuständigen wohl noch offenhalten wollen, mit welche Keule sie zuschlagen wollen. Vielleicht sind sie sich noch nicht sicher, welcher Weg am Wirksamsten sein wird, wie die Öffentlichkeit reagieren wird und wollen sich noch ein Manövrierspielraum lassen. Beide Verwürfe sind ja auch unterschiedlicher Natur. Mit dem Terrorismusvorwurf will man die Nationalisten in der CHP abschrecken, mit dem Veruntreuungsvorwurf sein Image als Saubermann ankratzen. Aber wen man davon jetzt noch überzeugen kann, ist tatsächlich noch die Frage. Denn bemerkenswert ist ja, dass trotz der ganzen Manipulation der Medien usw. sehr, sehr viele Leute dies ganz klar als autoritären Move Erdoğans entlarven und deshalb auf der Straße sind.
Um zurück zu deiner Frage zu kommen: Ich glaube schon, dass die Verhaftung Imamoğlus Erdoğan in irgendeiner Weise nützt. Wenn Erdoğan seine Regierungszeit verlängern will, dann hat er laut der jetzigen Verfassung nur die Möglichkeiten, dass das Parlament entscheidet sich aufzulösen und es dann zu Neuwahlen kommt – auch für das Präsidentenamt. Das heißt er muss jetzt auf clevere Weise eine Situation erzeugen, die ihm nochmal eine Chance ermöglicht zu kandidieren. Denn momentan darf er de facto einfach nicht mehr kandidieren. Entsprechend gibt es eigentlich nur ein paar Dinge, die er noch machen kann.
Çetin Gürer: Verstehe ich das richtig, dass durch die Verhaftung Imamoğlus die CHP quasi gezwungen werden könnte, einer Auflösung des Parlamentes zu zustimmen? Weil die Annullierung des Unidiploms von Imamoğlu allein ja schon für seine Nicht-Kandidatur ausreichend gewesen wäre, aber dies noch nicht die Kandidatur Erdoğans ermöglicht hätte.
Ulrike Flader: Ja, also…
Çetin Gürer: Das wäre eine sehr gute Strategie.
Ulrike Flader: Wir wissen nicht genau was die Regierung vorhat, aber wir müssen das ganze als Taktieren verstehen, wo die Beteiligten unter Druck gesetzt werden. Auch jetzt wird schon hier und da darüber redet, dass die CHP vielleicht nichts gegen vorgezogene Wahlen hätte. Soweit ich es weiß, reicht ja momentan die Mehrheit der Regierungskoalition im Parlament ja noch nicht mal dafür aus, die Wahlen frühzeitig auszurufen. Deswegen muss Erdoğan irgendwie eine andere Situation erzeugen.
Çetin Gürer: Er muss entweder die Unterstützung von Kurden für sich gewinnen, um die Verfassung zu verändern. Dafür braucht er nur 360 Abgeordnete im türkischen Parlament. Oder das Parlament muss sich selbst auflösen, damit Erdoğan selbst kandidieren darf. Um diese zweite Option zu verwirklichen, braucht er noch mehr “Provokation”, sage ich mal, und das hat er geschafft. Außerdem ist es natürlich logisch, seinen größten Gegenkandidaten auszuschließen, wenn man davon vorausgehen kann, dass Ekrem Imamoğlu bessere Chancen hat. Vielleicht wollte Erdoğan das nicht riskieren.
„Es ist ein Regime, das versucht Zeit zu gewinnen.“
Ulrike Flader: Ich bin mir nicht sicher, ob es immer so einen klaren Plan gibt, nach dem diese Sachen ablaufen. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass die Regierung oder Erdoğan so ein bisschen guckt, wie die Dinge sich entwickeln. Jetzt sind ja sehr viele Leute auf die Straßen gegangen. Wie lange zieht sich das hin? Kann ich das managen? Jetzt sieht es aus, als wenn ganz viele Leute eben ihre Meinung trotz der Verhaftungen freien Lauf lassen können. Vielleicht lässt er das jetzt einfach für eine Weile laufen und irgendwann in der nächsten Zeit passiert dann was anderes. Aber auf jeden Fall ist es ja klar, dass – wenn Imamoğlu bis zu den Wahlen irgendwie im Gefängnis wäre – die CHP natürlich ein bisschen schlechtere Chancen hat. Trotzdem bin ich der Meinung, dass trotz oder gerade wegen der jetzigen Situation viele Wähler die CHP dennoch wählen würden. Deswegen glaube ich, das ist noch nicht das Ende des Taktierens von Erdoğan. Wenn Imamoğlu erstmal drei Jahre oder so im Gefängnis ist, dann ist natürlich auch nicht mehr die gleiche Dynamik da wie jetzt. Es ist die Frage, wie lange die CHP das aufrechterhalten kann. Außerdem macht man natürlich eine Partei auch mürbe, indem man immer wieder ihre wichtigen Köpfe ins Gefängnis wirft – so war es ja auch bei der HDP/DEM Partei – oder sie auch mit kleineren “Attacken” immer beschäftigt hält. Denn eine Sache ist ganz wichtig zu verstehen: Dieses Regime spielt auf Zeit.
Çetin Gürer: Zeit gewinnen.
Ulrike Flader: Ja. Es ist ein Regime, was einfach versucht Zeit gewinnen.
Çetin Gürer: Das ist eine typische Taktik, um die Opposition zu managen. Erdoğan hatte vor, den Parteikongress der CHP bloß zu stellen und dass er neu stattfinden muss oder einen Treuhändler [Kayyum] an die Spitze der Partei zu setzen.
Ulrike Flader: Ein letzter Gedanke dazu: Es ist eine Regierungsstil, der die Opposition nicht ganz verbietet, sondern immer so ein bisschen Spielraum lässt, indem Du aber eigentlich gar nicht richtig handeln kannst. Und so macht es paradoxerweise die Opposition kaputt, gerade indem man sie nie ganz verbietet. Es ist wieder so ein Widerspruch.
Çetin Gürer: Er legt selber die Spielregeln und ‑raum fest. Diejenigen, die mitmachen wollen, müssen sich an die Regeln, die von Erdoğan bestimmt wurden, halten.
Ulrike Flader: Und es macht natürlich auch Angst und Apathisch. Was wir jetzt sehen – dass die Menschen, nicht nur CHP-Anhänger – jetzt noch auf die Straße sind – mutig geworden sind, ist was Besonderes. Aber sie konnten auch über die letzten Jahre an Mut gewinnen, weil sie – das muss man ja sagen – im Vergleich zu den kurdischen Parteien ein gewisses freies Maß hatten. Wenn aber jetzt in nächster Zeit immer mehr und mehr CHP-Politiker*innen und ‑Anhänger wegen konstruierten Vorwürfen, wie Amtsmissbrauch oder eben immer wieder dieser Terrorismusverdacht oder jetzt auch Landfriedensbruch ‑womöglich wie jetzt wieder auf Basis von anonymen Zeugen – im Gefängnis landen, werden wir sehen, dass auch ihnen die Leute wegbrechen.
Hoffnung und Apathie
Çetin Gürer: Was ist denn, deiner Meinung nach, der beste Weg aus dieser Ausweglosigkeit. Ist die Straße eine Option? Welche anderen Mittel gibt es?
Ulrike Flader: Ja, natürlich ist es wichtig, so viele Menschen auf der Straße zu sehen. Was Gegenteiliges wird man von mir nicht hören. Wir könnten aber natürlich auch erleben, dass Erdoğan – gerade weil er die Proteste als Straßenterrorismus bezeichnet – auch wieder eine Form von vielleicht regional oder zeitlich begrenzten Ausnahmezustand ausrufen kann. Das kann alles passieren. Trotzdem würde ich sagen natürlich, dass auf die Straße zu gehen allen Mut macht. Gerade in Bezug auf das, was ich vorhin gesagt habe: Dieses System spielt ja so mit unseren Emotionen. Auf der einen Seite, wir fallen in Apathie, dann haben wir ein bisschen Hoffnung vor den Wahlen und dann merken wir, es klappt nicht, dann werden wir wieder apathisch oder kraftlos usw. Diesen emotionalen Zyklus zu brechen ist natürlich extrem wichtig. Von daher, glaube ich, auf die Straße zu gehen hat wirklich geholfen aus dem “Limbo”, wie ich das auf Englisch immer sage, auszubrechen, aus diesem Hängezustand. Das war sehr wichtig.
„Diesen emotionalen Zyklus zu brechen ist natürlich extrem wichtig.“
Trotzdem glaube ich, dass die Antwort auf die Frage nach dem Ausweg noch etwas anderes in den Blick nehmen muss. Und ich habe lange Zeit auch keine Antwort diese Frage gehabt, bis zu einem Gespräch, das wir beide letztens hatten, in dem es eigentlich um die aktuellen Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und Abdullah Öcalan ging. Dabei ist mir aufgegangen, dass wir den Ausweg aus diesem Regime auch im Sinne von Verhandlungen denken müssen. Der Grund liegt darin, dass dieses Regime mit Taktieren arbeitet. Es nimmt Menschen als Geiseln. Letztendlich ist Ekrem Imamoğlu eigentlich jetzt noch eine Geisel dieses Regimes, genauso wie Osman Kavala, wie Selahattin Demirtas und all die anderen HDP und DEM Abgeordneten und andere Politiker. Es ist ein Regime, das mit einer geiselhaft-artigen Logik vorgeht. Natürlich müssen Parteien auch noch ihre Wähler mit Inhalten überzeugen etc. Das muss die CHP z.B. trotzdem machen. Aber ich denke es ist wichtig zu verstehen, dass es kein Regime ist, was allein dadurch geht, indem Oppositionsparteien ihre Wählerpotentiale mobilisieren. Es geht auch ums Taktiktieren, vielleicht ums Verhandeln. Die Opposition muss sich überlegen, ob sie zurzeit nicht auch Druckmittel in der Hand hat und welche diese sind.
Çetin Gürer: Weil am Ende Erdoğan ja auch immer noch sagen kann, dass er die Wahlen nicht anerkennt, wenn die Opposition die Wahlen gewinnt. Das hat er schon bewiesen.
Ulrike Flader: Ich habe mich immer gefragt, in welcher Art und Weise Politiker dieses Regime wirklich analysieren. Denn wenn man es nicht richtig analysiert, dann besteht die Gefahr, dass man sich hinreißen lässt, nur für Wahlen zu mobilisieren.
Çetin Gürer: Und dass obwohl die Wahlen in dem Sinne keine Hoffnung für ein Wechsel sind.
Ulrike Flader: Genau. Ganz am Ende wird man natürlich eine Wahl gewinnen müssen. Aber zuerst muss man verstehen, was für ein Regime ist das: ein Regime, das taktiert, das mit Widersprüchlichkeiten arbeitet, das handelt und zurückzieht, flexibel ist. Entsprechend muss die Opposition auch ihre eigenen Taktiken entwickeln. So kommt es mir vor.
Ihn mit den eigenen Mitteln schlagen
Çetin Gürer: Man muss dies erkennen und dementsprechend Politik machen.
Ulrike Flader: Eigentlich muss man Erdoğan eine Falle stricken. Im Moment kommt mir nur so etwas in den Sinn. Da die Opposition letztendlich nur durch eine Wahl an die Macht kommen kann – alles andere wäre ja ein Putsch – benötigt sie eine Taktik oder Strategie, durch die Erdoğan selbst Wahlen unter Bedingungen ausruft, die er aber dann nicht gewinnen kann. Sie benötigt eine Taktik, um ihn quasi Schach-Matt-Setzen. Weil die Regierungsparteien nicht über die nötige 2/3‑Mehrheit im Parlament verfügen, kann Erdoğan nur mit Hilfe der Opposition Neuwahlen oder eine Verfassungsänderung erreichen, darin liegt unter Umständen eine Potenzial Druck zu machen, sowohl für die Kurden als auch für die CHP. Aber ohne das Taktieren von Erdoğan zu durchschauen und die entsprechenden Gegenstrategien in diesem tragischen, politischen Schachspiel zu entwickeln, wird das nicht klappen.
Çetin Gürer: Man muss ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen, ihn auch in Schock versetzen. Die Oppositionelle müssen das auch so machen. Wie jetzt hinsichtlich der Friedensverhandlungen: Als Imamoğlu plötzlich verhaftet wurde, während die Gespräche mit Abdullah Öcalan und der PKK laufen, habe ich immer gedacht, dass die CHP so schnell wie möglich, ihre Beziehung zur kurdischen DEM Partei stärken muss und selbst mit Vorschlägen, wie das von Devlet Bahceli vorgeschlagene “Umut Hakki” [wörtlich: Recht auf Hoffnung; d.h. auf ein Ende der Haft], mit dem Abdullah Öcalan freigelassen werden könnte, kontern muss, z.B. mit einem Vorschlag zur Gesetzesänderung oder sowas. So etwas würde man normalerweise von der CHP nicht erwartet. Die Friedensgespräche sind nämlich gerade so ein Machthebel in den Händen von Erdoğan. Er will ja eigentlich gar keinen Frieden wirklich schließen, weil er nicht das Ziel hat, das kurdische Problem durch die Gewährung von Rechten zu lösen. Stattdessen ist sein einziges Ziel, seine Macht aufrechtzuerhalten. Das ist ein sehr pragmatischer und machiavellistischer Ansatz seiner Regierungspolitik. Von daher, wenn die CHP so eine Forderung plötzlich ins Spiel bringen würde, wäre dies natürlich eine Überraschung für Erdoğan und seinem Machtblock. Für die kurdische DEM Partei ist die Situation etwas anders, weil sie sowieso solche Forderungen nach der Freilassung Öcalans und der anderen Gefangenen haben.
„Ohne das Taktieren von Erdoğan zu durchschauen und die entsprechenden Gegenstrategien in diesem tragischen, politischen Schachspiel zu entwickeln, wird es der Opposition nicht gelingen, Druck aufzubauen.“
Ulrike Flader: Dem würde ich total zustimmen. Alles was Erdoğan in die Hände spielt, jeden Trumpf den er ausspielen kann, den muss man ihm aus der Hand nehmen. Das wäre genau das, was ich mit diesem Taktiktieren meine. Erdoğan hat dieses Spiel eröffnet und Du musst den nächsten Zug so planen, dass er es nicht gegen Dich oder gegen die Mehrheit der Bevölkerung oder gegen die Demokratie ausspielen kann. Und momentan sieht es tatsächlich sehr danach aus, als ob es die kurdische Frage wäre. Ich würde sogar weitergehen als du: Was spricht denn dagegen, dass die CHP selbst hinter den Kulissen Gespräche auf irgendeine Art und Weise mit der PKK führen kann? Man muss kreativ sein.
Çetin Gürer: Ja, die kurdische Frage ist jetzt gerade das einzig Ausschlaggebende in der Politik. Seit letzten Oktober ist bekannt, dass Erdoğan und die MHP die Gespräche mit der PKK und Abdullah Öcalan aufgenommen haben. Es gibt ja in der Türkei nur drei ausschlaggebende politische Kräfte: die Kurden, die Kemalisten und die Islamisten. Erdoğan spielt immer mit solchen Gruppen. Und jetzt ist die kurdische Frage wieder zum Thema geworden, obwohl dies nicht sein Plan oder Absicht war. Meiner Meinung nach wurden die Verhandlungen ja von den internationalen Kräften mit besonderen Blick auf Syrien auf den Tisch gebracht und Erdoğan musste sie hinnehmen. Deswegen sind die Verhandlungsgespräche mit Abdullah Öcalan sehr abrupt auf die Tagesordnung der türkischen Politik gekommen, obwohl ein neuer Friedensprozess gar nicht in Sicht war.
Ulrike Flader: Wir waren ja total verwundert.
Çetin Gürer: Erdoğan musste dann seine Spielkarten sozusagen neu mischen und hat dann auch Vollgas gegeben. Ich denke daher, dass die Friedensgespräche ein wichtiger Auslöser waren. Sonst macht das Ganze gar keinen Sinn. Warum geht es jetzt in so einem großen Ausmaß um den Wahlkampf? Das ist zu früh, wenn es noch ungefähr drei Jahre bis zu den nächsten Wahlen sind. Ich denke, stattdessen hat sich Erdoğan überlegt, dass die Kurden auch eine Chance für seine Macht sind und er kann sich jetzt wieder an die Kurden annähern und gleichzeitig so die Verbindung zwischen Kurden und CHP zerschlagen.
Ulrike Flader: Ich finde dieses Argument, das du in einem deiner letzten Artikel gebracht hast, dass da sicherlich andere internationale Kräfte mitspielen, sehr überzeugend. Aber das Ganze zeigt auch wieder genau, dass Erdoğan damit dann trotzdem weitermachen kann. Er ist flexibel. Es ist kein Widerspruch für seine Politik. Er hat nicht entschieden, dass er nie wieder mit den Kurden verhandeln kann. Das brauchte er damals, 2015. Davor hatte er ja eine andere Politik gegenüber den Kurden gefahren, die auf eine angebliche muslimische Bruderschaft baute. Dann brauchte er sie plötzlich nicht. Das ist wieder mal auch ein Argument dafür, warum wir hier besser von Autoritarismus und nicht Faschismus bzw. Totalitarismus sprechen sollten, weil – wenn wir Juan Linz, ein Politologe, folgen wollen, der in seiner Unterscheidung argumentiert, dass sich Autoritarismus gerade durch das Fehlen einer Ideologie auszeichnet. Das müsste man länger ausführen, aber ich finde, dass spricht sehr dafür, dass Erdoğan heute A sagen, und morgen B sagen.
Çetin Gürer: Er hat keine feste Ideologie, sondern einen pragmatischen Ansatz, um mit dem Ziel an der Macht zu bleiben.
Ulrike Flader: Und alles, was für dieses Ziel hilfreich ist, kann er nutzen. So, wie in diesem Fall, wenn internationale Kräfte ihn zu etwas zwingen wollen, womit er vielleicht nicht unbedingt glücklich ist. Er versucht dann, daraus irgendwie wieder eine Situation zu schaffen, die für ihn von Nutzen ist. Ein letzter Gedanke, der nochmal auf deine Eingangsfrage zurückzukommt, ist dass es noch immer einige taktische Züge gibt, die Erdoğan ausspielen kann, bevor er vollends mit der Scheindemokratie aufgibt: Mich würde es nicht wundern, wenn wir in nächster Zeit nochmal eine erneute eine Verfassungsänderung sehen, die mit quasi-demokratischen Änderungen versehen ist. Vorstellbar ist, dass er die Wahlen von Parlament und Präsidentenamt wieder voneinander entkoppelt, um die Kontrolle über das Präsidentenamt zu behalten, während das Parlament scheinbar wieder mehr Rechte erhält. Dieses Regime war in den letzten zehn Jahren so kreativ und hat uns so manches Mal überrascht. Deshalb denke ich, dass Erdoğan noch einige Trümpfe haben kann, die er noch ausspielen wird. Vielleicht werden wir sogar sehen, dass Imamoğlu in ein paar Jahren wieder draußen ist, wenn es Erdoğan sinnhaft erscheint. Alles ist sehr flexibel und deswegen ist es manchmal schwer, klare Voraussagen zu treffen. Aber dieses Taktiktieren selbst zu verstehen ist wichtig, wenn wir uns überlegen, was für eine Art von Politik wir wählen müssen.
Çetin Gürer: Ich danke Dir für das Gespräch.
Das Interview wurde zuerst auf der Website von Dr. Çetin Gürer veröffentlicht.