Wahlen, Tak­tiken und Gewalt - Erdoğans soft-autoritäres Regime angesichts der aktuellen Entwick­lun­gen (Teil II)

Angesichts der jüng­sten Ver­haf­tungswelle gegen Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­er der größten Oppo­si­tion­spartei CHP ein­schließlich dem berühmten Ober­bürg­er­meis­ter Ekrem Imamoğlu und die darauf­fol­gen­den Massendemon­stra­tio­nen im ganzen Land, wird in der Türkei die Frage, ob das Regime Erdoğans nun von einem kom­pet­i­tiv­en in einen voll­ständi­gen Autori­taris­mus umschlägt, heiß disku­tiert. Bis­lang kon­nte die CHP mit ihrem Vor­sitzen­der Özgür Özel die Proteste erfol­gre­ich organ­isieren. Die Dro­hung Präsi­dent Erdoğans, die Stadtver­wal­tung Istan­buls und die CHP selb­st unter Zwangsver­wal­tung zu stellen, kon­nten sie erfol­gre­ich abwen­den. Eine Freilas­sung ihrer wichti­gen Vertreter zu erre­ichen, ist ihnen aber nicht gelun­gen. Zunehmend ist davon die Rede, dass die Wahlen in Zukun­ft abgeschafft wer­den kön­nten und Erdoğan dadurch nicht mehr abwählbar ist. Das fol­gende Gespräch mit Ulrike Flad­er gibt zu diesen und ähn­lichen Fra­gen einige Antworten.

Dr. Ulrike Flad­er ist wis­senschaftliche Mitar­bei­t­erin an Insti­tut für Eth­nolo­gie und Kul­tur­wis­senschaften der Uni­ver­sität Bre­men und beobachtet seit vie­len Jahren die poli­tis­chen Entwick­lun­gen in der Türkei als Mit­glied der Forschungs­gruppe „Soft Authoritarianisms“.

Das Inter­view führte Dr. Çetin Gür­er, Sozial- und Poli­tik­wis­senschafter und Assozi­iert­er am InI­IS, Uni­ver­sität Bre­men. Seine Arbeitss­chw­er­punk­te liegen im Bere­ich der Kon­flikt- und Friedens­forschung, Plu­ral­is­mus und Autonomiemod­ellen, die Kur­dis­che Frage sowie Poli­tik und Gesellschaft der Türkei. Er pro­movierte mit ein­er Arbeit zur Lösung des Kur­dis­chen Kon­flik­ts in der Türkei an der Uni­ver­sität Ankara und pub­liziert als Kom­men­ta­tor regelmäßig zu aktuellen Fra­gen in der Türkei.

Zweit­er Teil des Inter­views. Hier geht’s zum ersten Teil.

Auch Imamoğlus Ver­haf­tung ein Taktieren?

Cetin Gür­er: Kom­men wir nochmal auf die aktuellen Ereignisse zurück. Warum hat Erdoğan jet­zt den Schritt, gemacht Imamoğlu ver­haften zu lassen? Wozu braucht er das denn eigentlich? Ist es ein­fach so, dass er die Oppo­si­tion man­a­gen will, damit er die Wahlen gewin­nen kann? Aber es sind ja noch drei Jahre bis zu den näch­sten Wahlen. Warum hat er jet­zt plöt­zlich diesen Schritt gemacht? Und worauf zielt er eigentlich ab?

Ulrike Flad­er: Viele von uns hat­ten die kom­menden Wahlen wahrschein­lich noch gar nicht richtig im Kopf. Aber die Regierung ist immer zwei, drei Schritte voraus und sie über­legen sich genau, welche Tak­tiken, wann Sinn machen. Ich denke, dass es tat­säch­lich um den Parteitag der CHP ging, der an dem Woch­enende danach stat­tfind­en und an dem Imamoğlu zum Kan­di­dat­en gewählt wer­den sollte.

Çetin Gür­er: Wollte Erdoğan das verhindern?

Ulrike Flad­er: Es geht auf jeden Fall, darum der größten Oppo­si­tion­spartei Steine in den Weg zu leg­en. Sehr inter­es­sant finde ich den Schritt, der vor der Ver­haf­tung kam: näm­lich die Annul­lierung Imamoğlus Uni­ver­sitätsab­schlusses durch die Uni-Leitung. Das zu machen hat ein­fach den ganz prak­tis­chen Grund, weil Imamoğlu somit de fac­to nicht mehr die Grund­vo­raus­set­zun­gen erfüllt, um kan­di­dieren zu können.

Çetin Gür­er: Dem­nach wäre eine Ver­haf­tung eigentlich gar nicht nötig gewesen.

Ulrike Flad­er: Eigentlich ja, wobei die Annul­lierung ja immer noch ange­focht­en wer­den kann. Inter­es­sant ist außer­dem dieses offen­sichtliche Tak­tik­tieren um die ver­schiede­nen Vor­würfe. Es gibt ja zwei: zum einen Ter­ror­is­mus, weil die CHP mit der DEM Partei eine strate­gis­che Wahlab­sprache einge­gan­gen ist und zum anderen…

Çetin Gür­er: Korruption.

Ulrike Flad­er: Ja, bzw. die Verun­treu­ung von Geldern, glaube ich. Das ist deshalb inter­es­sant, weil sich hier die Zuständi­gen wohl noch offen­hal­ten wollen, mit welche Keule sie zuschla­gen wollen. Vielle­icht sind sie sich noch nicht sich­er, welch­er Weg am Wirk­sam­sten sein wird, wie die Öffentlichkeit reagieren wird und wollen sich noch ein Manövri­er­spiel­raum lassen. Bei­de Ver­würfe sind ja auch unter­schiedlich­er Natur. Mit dem Ter­ror­is­musvor­wurf will man die Nation­al­is­ten in der CHP abschreck­en, mit dem Verun­treu­ungsvor­wurf sein Image als Sauber­mann ankratzen. Aber wen man davon jet­zt noch überzeu­gen kann, ist tat­säch­lich noch die Frage. Denn bemerkenswert ist ja, dass trotz der ganzen Manip­u­la­tion der Medi­en usw. sehr, sehr viele Leute dies ganz klar als autoritären Move Erdoğans ent­lar­ven und deshalb auf der Straße sind.

Um zurück zu dein­er Frage zu kom­men: Ich glaube schon, dass die Ver­haf­tung Imamoğlus Erdoğan in irgen­dein­er Weise nützt. Wenn Erdoğan seine Regierungszeit ver­längern will, dann hat er laut der jet­zi­gen Ver­fas­sung nur die Möglichkeit­en, dass das Par­la­ment entschei­det sich aufzulösen und es dann zu Neuwahlen kommt – auch für das Präsi­den­te­namt. Das heißt er muss jet­zt auf cle­vere Weise eine Sit­u­a­tion erzeu­gen, die ihm nochmal eine Chance ermöglicht zu kan­di­dieren. Denn momen­tan darf er de fac­to ein­fach nicht mehr kan­di­dieren. Entsprechend gibt es eigentlich nur ein paar Dinge, die er noch machen kann.

Çetin Gür­er: Ver­ste­he ich das richtig, dass durch die Ver­haf­tung Imamoğlus die CHP qua­si gezwun­gen wer­den kön­nte, ein­er Auflö­sung des Par­la­mentes zu zus­tim­men? Weil die Annul­lierung des Uni­diploms von Imamoğlu allein ja schon für seine Nicht-Kan­di­datur aus­re­ichend gewe­sen wäre, aber dies noch nicht die Kan­di­datur Erdoğans ermöglicht hätte.

Ulrike Flad­er: Ja, also…

Çetin Gür­er: Das wäre eine sehr gute Strategie.

Ulrike Flad­er: Wir wis­sen nicht genau was die Regierung vorhat, aber wir müssen das ganze als Tak­tieren ver­ste­hen, wo die Beteiligten unter Druck geset­zt wer­den. Auch jet­zt wird schon hier und da darüber redet, dass die CHP vielle­icht nichts gegen vorge­zo­gene Wahlen hätte.  Soweit ich es weiß, reicht ja momen­tan die Mehrheit der Regierungskoali­tion im Par­la­ment ja noch nicht mal dafür aus, die Wahlen frühzeit­ig auszu­rufen. Deswe­gen muss Erdoğan irgend­wie eine andere Sit­u­a­tion erzeugen.

Çetin Gür­er: Er muss entwed­er die Unter­stützung von Kur­den für sich gewin­nen, um die Ver­fas­sung zu verän­dern. Dafür braucht er nur 360 Abge­ord­nete im türkischen Par­la­ment. Oder das Par­la­ment muss sich selb­st auflösen, damit Erdoğan selb­st kan­di­dieren darf. Um diese zweite Option zu ver­wirk­lichen, braucht er noch mehr “Pro­voka­tion”, sage ich mal, und das hat er geschafft. Außer­dem ist es natür­lich logisch, seinen größten Gegenkan­di­dat­en auszuschließen, wenn man davon voraus­ge­hen kann, dass Ekrem Imamoğlu bessere Chan­cen hat. Vielle­icht wollte Erdoğan das nicht riskieren.

„Es ist ein Regime, das ver­sucht Zeit zu gewinnen.“

Ulrike Flad­er: Ich bin mir nicht sich­er, ob es immer so einen klaren Plan gibt, nach dem diese Sachen ablaufen. Ich habe vielmehr den Ein­druck, dass die Regierung oder Erdoğan so ein biss­chen guckt, wie die Dinge sich entwick­eln. Jet­zt sind ja sehr viele Leute auf die Straßen gegan­gen. Wie lange zieht sich das hin? Kann ich das man­a­gen? Jet­zt sieht es aus, als wenn ganz viele Leute eben ihre Mei­n­ung trotz der Ver­haf­tun­gen freien Lauf lassen kön­nen. Vielle­icht lässt er das jet­zt ein­fach für eine Weile laufen und irgend­wann in der näch­sten Zeit passiert dann was anderes. Aber auf jeden Fall ist es ja klar, dass – wenn Imamoğlu bis zu den Wahlen irgend­wie im Gefäng­nis wäre – die CHP natür­lich ein biss­chen schlechtere Chan­cen hat. Trotz­dem bin ich der Mei­n­ung, dass trotz oder ger­ade wegen der jet­zi­gen Sit­u­a­tion viele Wäh­ler die CHP den­noch wählen wür­den. Deswe­gen glaube ich, das ist noch nicht das Ende des Tak­tierens von Erdoğan. Wenn Imamoğlu erst­mal drei Jahre oder so im Gefäng­nis ist, dann ist natür­lich auch nicht mehr die gle­iche Dynamik da wie jet­zt. Es ist die Frage, wie lange die CHP das aufrechter­hal­ten kann. Außer­dem macht man natür­lich eine Partei auch mürbe, indem man immer wieder ihre wichti­gen Köpfe ins Gefäng­nis wirft – so war es ja auch bei der HDP/DEM Partei – oder sie auch mit kleineren “Attack­en” immer beschäftigt hält. Denn eine Sache ist ganz wichtig zu ver­ste­hen: Dieses Regime spielt auf Zeit.

Çetin Gür­er: Zeit gewinnen.

Ulrike Flad­er: Ja. Es ist ein Regime, was ein­fach ver­sucht Zeit gewinnen.

Çetin Gür­er: Das ist eine typ­is­che Tak­tik, um die Oppo­si­tion zu man­a­gen. Erdoğan hat­te vor, den Parteikongress der CHP bloß zu stellen und dass er neu stat­tfind­en muss oder einen Treuhändler [Kayyum] an die Spitze der Partei zu setzen.

Ulrike Flad­er: Ein let­zter Gedanke dazu: Es ist eine Regierungsstil, der die Oppo­si­tion nicht ganz ver­bi­etet, son­dern immer so ein biss­chen Spiel­raum lässt, indem Du aber eigentlich gar nicht richtig han­deln kannst. Und so macht es para­dox­er­weise die Oppo­si­tion kaputt, ger­ade indem man sie nie ganz ver­bi­etet. Es ist wieder so ein Widerspruch.

Çetin Gür­er: Er legt sel­ber die Spiel­regeln und ‑raum fest. Diejeni­gen, die mit­machen wollen, müssen sich an die Regeln, die von Erdoğan bes­timmt wur­den, halten.

Ulrike Flad­er: Und es macht natür­lich auch Angst und Apathisch. Was wir jet­zt sehen – dass die Men­schen, nicht nur CHP-Anhänger – jet­zt noch auf die Straße sind – mutig gewor­den sind, ist was Beson­deres. Aber sie kon­nten auch über die let­zten Jahre an Mut gewin­nen, weil sie – das muss man ja sagen – im Ver­gle­ich zu den kur­dis­chen Parteien ein gewiss­es freies Maß hat­ten. Wenn aber jet­zt in näch­ster Zeit immer mehr und mehr CHP-Politiker*innen und ‑Anhänger wegen kon­stru­ierten Vor­wür­fen, wie Amtsmiss­brauch oder eben immer wieder dieser Ter­ror­is­musver­dacht oder jet­zt auch Land­friedens­bruch ‑wom­öglich wie jet­zt wieder auf Basis von anony­men Zeu­gen – im Gefäng­nis lan­den, wer­den wir sehen, dass auch ihnen die Leute wegbrechen.

Hoff­nung und Apathie 

Çetin Gür­er: Was ist denn, dein­er Mei­n­ung nach, der beste Weg aus dieser Auswe­glosigkeit. Ist die Straße eine Option? Welche anderen Mit­tel gibt es?

Ulrike Flad­er: Ja, natür­lich ist es wichtig, so viele Men­schen auf der Straße zu sehen. Was Gegen­teiliges wird man von mir nicht hören. Wir kön­nten aber natür­lich auch erleben, dass Erdoğan – ger­ade weil er die Proteste als Straßen­ter­ror­is­mus beze­ich­net – auch wieder eine Form von vielle­icht region­al oder zeitlich begren­zten Aus­nah­mezu­s­tand aus­rufen kann. Das kann alles passieren. Trotz­dem würde ich sagen natür­lich, dass auf die Straße zu gehen allen Mut macht. Ger­ade in Bezug auf das, was ich vorhin gesagt habe: Dieses Sys­tem spielt ja so mit unseren Emo­tio­nen. Auf der einen Seite, wir fall­en in Apathie, dann haben wir ein biss­chen Hoff­nung vor den Wahlen und dann merken wir, es klappt nicht, dann wer­den wir wieder apathisch oder kraft­los usw. Diesen emo­tionalen Zyk­lus zu brechen ist natür­lich extrem wichtig. Von daher, glaube ich, auf die Straße zu gehen hat wirk­lich geholfen aus dem “Lim­bo”, wie ich das auf Englisch immer sage, auszubrechen, aus diesem Hängezu­s­tand. Das war sehr wichtig.

„Diesen emo­tionalen Zyk­lus zu brechen ist natür­lich extrem wichtig.“

Trotz­dem glaube ich, dass die Antwort auf die Frage nach dem Ausweg noch etwas anderes in den Blick nehmen muss. Und ich habe lange Zeit auch keine Antwort diese Frage gehabt, bis zu einem Gespräch, das wir bei­de let­ztens hat­ten, in dem es eigentlich um die aktuellen Friedensver­hand­lun­gen zwis­chen der Regierung und Abdul­lah Öcalan ging. Dabei ist mir aufge­gan­gen, dass wir den Ausweg aus diesem Regime auch im Sinne von Ver­hand­lun­gen denken müssen. Der Grund liegt darin, dass dieses Regime mit Tak­tieren arbeit­et. Es nimmt Men­schen als Geiseln. Let­z­tendlich ist Ekrem Imamoğlu eigentlich jet­zt noch eine Geisel dieses Regimes, genau­so wie Osman Kavala, wie Sela­hat­tin Demir­tas und all die anderen HDP und DEM Abge­ord­neten und andere Poli­tik­er. Es ist ein Regime, das mit ein­er geisel­haft-arti­gen Logik vorge­ht. Natür­lich müssen Parteien auch noch ihre Wäh­ler mit Inhal­ten überzeu­gen etc. Das muss die CHP z.B. trotz­dem machen. Aber ich denke es ist wichtig zu ver­ste­hen, dass es kein Regime ist, was allein dadurch geht, indem Oppo­si­tion­sparteien ihre Wäh­ler­po­ten­tiale mobil­isieren. Es geht auch ums Tak­tik­tieren, vielle­icht ums Ver­han­deln. Die Oppo­si­tion muss sich über­legen, ob sie zurzeit nicht auch Druck­mit­tel in der Hand hat und welche diese sind.

Çetin Gür­er: Weil am Ende Erdoğan ja auch immer noch sagen kann, dass er die Wahlen nicht anerken­nt, wenn die Oppo­si­tion die Wahlen gewin­nt. Das hat er schon bewiesen.

Ulrike Flad­er: Ich habe mich immer gefragt, in welch­er Art und Weise Poli­tik­er dieses Regime wirk­lich analysieren. Denn wenn man es nicht richtig analysiert, dann beste­ht die Gefahr, dass man sich hin­reißen lässt, nur für Wahlen zu mobilisieren.

Çetin Gür­er: Und dass obwohl die Wahlen in dem Sinne keine Hoff­nung für ein Wech­sel sind.

Ulrike Flad­er: Genau. Ganz am Ende wird man natür­lich eine Wahl gewin­nen müssen. Aber zuerst muss man ver­ste­hen, was für ein Regime ist das:  ein Regime, das tak­tiert, das mit Wider­sprüch­lichkeit­en arbeit­et, das han­delt und zurückzieht, flex­i­bel ist. Entsprechend muss die Oppo­si­tion auch ihre eige­nen Tak­tiken entwick­eln. So kommt es mir vor.

Ihn mit den eige­nen Mit­teln schlagen

Çetin Gür­er: Man muss dies erken­nen und dementsprechend Poli­tik machen.

Ulrike Flad­er: Eigentlich muss man Erdoğan eine Falle strick­en. Im Moment kommt mir nur so etwas in den Sinn. Da die Oppo­si­tion let­z­tendlich nur durch eine Wahl an die Macht kom­men kann – alles andere wäre ja ein Putsch – benötigt sie eine Tak­tik oder Strate­gie, durch die Erdoğan selb­st Wahlen unter Bedin­gun­gen aus­ruft, die er aber dann nicht gewin­nen kann. Sie benötigt eine Tak­tik, um ihn qua­si Schach-Matt-Set­zen. Weil die Regierungsparteien nicht über die nötige 2/​3‑Mehrheit im Par­la­ment ver­fü­gen, kann Erdoğan nur mit Hil­fe der Oppo­si­tion Neuwahlen oder eine Ver­fas­sungsän­derung erre­ichen, darin liegt unter Umstän­den eine Poten­zial Druck zu machen, sowohl für die Kur­den als auch für die CHP. Aber ohne das Tak­tieren von Erdoğan zu durch­schauen und die entsprechen­den Gegen­strate­gien in diesem tragis­chen, poli­tis­chen Schachspiel zu entwick­eln, wird das nicht klappen.

Çetin Gür­er: Man muss ihn mit seinen eige­nen Mit­teln schla­gen, ihn auch in Schock ver­set­zen. Die Oppo­si­tionelle müssen das auch so machen. Wie jet­zt hin­sichtlich der Friedensver­hand­lun­gen: Als Imamoğlu plöt­zlich ver­haftet wurde, während die Gespräche mit Abdul­lah Öcalan und der PKK laufen, habe ich immer gedacht, dass die CHP so schnell wie möglich, ihre Beziehung zur kur­dis­chen DEM Partei stärken muss und selb­st mit Vorschlä­gen, wie das von Devlet Bahceli vorgeschla­gene “Umut Hak­ki” [wörtlich: Recht auf Hoff­nung; d.h. auf ein Ende der Haft],  mit dem Abdul­lah Öcalan freige­lassen wer­den kön­nte, kon­tern muss, z.B. mit einem Vorschlag zur Geset­zesän­derung oder sowas. So etwas würde man nor­maler­weise von der CHP nicht erwartet. Die Friedens­ge­spräche sind näm­lich ger­ade so ein Machthebel in den Hän­den von Erdoğan. Er will ja eigentlich gar keinen Frieden wirk­lich schließen, weil er nicht das Ziel hat, das kur­dis­che Prob­lem durch die Gewährung von Recht­en zu lösen. Stattdessen ist sein einziges Ziel, seine Macht aufrechtzuer­hal­ten. Das ist ein sehr prag­ma­tis­ch­er und machi­avel­lis­tis­ch­er Ansatz sein­er Regierungspoli­tik. Von daher, wenn die CHP so eine Forderung plöt­zlich ins Spiel brin­gen würde, wäre dies natür­lich eine Über­raschung für Erdoğan und seinem Macht­block. Für die kur­dis­che DEM Partei ist die Sit­u­a­tion etwas anders, weil sie sowieso solche Forderun­gen nach der Freilas­sung Öcalans und der anderen Gefan­genen haben.

„Ohne das Tak­tieren von Erdoğan zu durch­schauen und die entsprechen­den Gegen­strate­gien in diesem tragis­chen, poli­tis­chen Schachspiel zu entwick­eln, wird es der Oppo­si­tion nicht gelin­gen, Druck aufzubauen.“ 

Ulrike Flad­er: Dem würde ich total zus­tim­men. Alles was Erdoğan in die Hände spielt, jeden Trumpf den er ausspie­len kann, den muss man ihm aus der Hand nehmen. Das wäre genau das, was ich mit diesem Tak­tik­tieren meine. Erdoğan hat dieses Spiel eröffnet und Du musst den näch­sten Zug so pla­nen, dass er es nicht gegen Dich oder gegen die Mehrheit der Bevölkerung oder gegen die Demokratie ausspie­len kann. Und momen­tan sieht es tat­säch­lich sehr danach aus, als ob es die kur­dis­che Frage wäre. Ich würde sog­ar weit­erge­hen als du: Was spricht denn dage­gen, dass die CHP selb­st hin­ter den Kulis­sen Gespräche auf irgen­deine Art und Weise mit der PKK führen kann? Man muss kreativ sein.

Çetin Gür­er: Ja, die kur­dis­che Frage ist jet­zt ger­ade das einzig Auss­chlaggebende in der Poli­tik. Seit let­zten Okto­ber ist bekan­nt, dass Erdoğan und die MHP die Gespräche mit der PKK und Abdul­lah Öcalan aufgenom­men haben. Es gibt ja in der Türkei nur drei auss­chlaggebende poli­tis­che Kräfte: die Kur­den, die Kemal­is­ten und die Islamis­ten. Erdoğan spielt immer mit solchen Grup­pen. Und jet­zt ist die kur­dis­che Frage wieder zum The­ma gewor­den, obwohl dies nicht sein Plan oder Absicht war. Mein­er Mei­n­ung nach wur­den die Ver­hand­lun­gen ja von den inter­na­tionalen Kräften mit beson­deren Blick auf Syrien auf den Tisch gebracht und Erdoğan musste sie hin­nehmen. Deswe­gen sind die Ver­hand­lungs­ge­spräche mit Abdul­lah Öcalan sehr abrupt auf die Tage­sor­d­nung der türkischen Poli­tik gekom­men, obwohl ein neuer Frieden­sprozess gar nicht in Sicht war.

Ulrike Flad­er: Wir waren ja total verwundert.

Çetin Gür­er: Erdoğan musste dann seine Spielka­rten sozusagen neu mis­chen und hat dann auch Voll­gas gegeben. Ich denke daher, dass die Friedens­ge­spräche ein wichtiger Aus­lös­er waren. Son­st macht das Ganze gar keinen Sinn. Warum geht es jet­zt in so einem großen Aus­maß um den Wahlkampf? Das ist zu früh, wenn es noch unge­fähr drei Jahre bis zu den näch­sten Wahlen sind. Ich denke, stattdessen hat sich Erdoğan über­legt, dass die Kur­den auch eine Chance für seine Macht sind und er kann sich jet­zt wieder an die Kur­den annäh­ern und gle­ichzeit­ig so die Verbindung zwis­chen Kur­den und CHP zerschlagen.

Ulrike Flad­er: Ich finde dieses Argu­ment, das du in einem dein­er let­zten Artikel gebracht hast, dass da sicher­lich andere inter­na­tionale Kräfte mit­spie­len, sehr überzeu­gend. Aber das Ganze zeigt auch wieder genau, dass Erdoğan damit dann trotz­dem weit­er­ma­chen kann. Er ist flex­i­bel. Es ist kein Wider­spruch für seine Poli­tik. Er hat nicht entsch­ieden, dass er nie wieder mit den Kur­den ver­han­deln kann. Das brauchte er damals, 2015. Davor hat­te er ja eine andere Poli­tik gegenüber den Kur­den gefahren, die auf eine ange­bliche mus­lim­is­che Brud­er­schaft baute. Dann brauchte er sie plöt­zlich nicht. Das ist wieder mal auch ein Argu­ment dafür, warum wir hier bess­er von Autori­taris­mus und nicht Faschis­mus bzw. Total­i­taris­mus sprechen soll­ten, weil – wenn wir Juan Linz, ein Poli­tologe, fol­gen wollen, der in sein­er Unter­schei­dung argu­men­tiert, dass sich Autori­taris­mus ger­ade durch das Fehlen ein­er Ide­olo­gie ausze­ich­net. Das müsste man länger aus­führen, aber ich finde, dass spricht sehr dafür, dass Erdoğan heute A sagen, und mor­gen B sagen.

Çetin Gür­er: Er hat keine feste Ide­olo­gie, son­dern einen prag­ma­tis­chen Ansatz, um mit dem Ziel an der Macht zu bleiben.

Ulrike Flad­er: Und alles, was für dieses Ziel hil­fre­ich ist, kann er nutzen. So, wie in diesem Fall, wenn inter­na­tionale Kräfte ihn zu etwas zwin­gen wollen, wom­it er vielle­icht nicht unbe­d­ingt glück­lich ist. Er ver­sucht dann, daraus irgend­wie wieder eine Sit­u­a­tion zu schaf­fen, die für ihn von Nutzen ist. Ein let­zter Gedanke, der nochmal auf deine Ein­gangs­frage zurück­zukommt, ist dass es noch immer einige tak­tis­che Züge gibt, die Erdoğan ausspie­len kann, bevor er vol­lends mit der Schein­demokratie aufgibt: Mich würde es nicht wun­dern, wenn wir in näch­ster Zeit nochmal eine erneute eine Ver­fas­sungsän­derung sehen, die mit qua­si-demokratis­chen Änderun­gen verse­hen ist. Vorstell­bar ist, dass er die Wahlen von Par­la­ment und Präsi­den­te­namt wieder voneinan­der entkop­pelt, um die Kon­trolle über das Präsi­den­te­namt zu behal­ten, während das Par­la­ment schein­bar wieder mehr Rechte erhält. Dieses Regime war in den let­zten zehn Jahren so kreativ und hat uns so manch­es Mal über­rascht. Deshalb denke ich, dass Erdoğan noch einige Trümpfe haben kann, die er noch ausspie­len wird. Vielle­icht wer­den wir sog­ar sehen, dass Imamoğlu in ein paar Jahren wieder draußen ist, wenn es Erdoğan sinnhaft erscheint. Alles ist sehr flex­i­bel und deswe­gen ist es manch­mal schw­er, klare Voraus­sagen zu tre­f­fen. Aber dieses Tak­tik­tieren selb­st zu ver­ste­hen ist wichtig, wenn wir uns über­legen, was für eine Art von Poli­tik wir wählen müssen.

Çetin Gür­er: Ich danke Dir für das Gespräch. 

Das Inter­view wurde zuerst auf der Web­site von Dr. Çetin Gür­er veröffentlicht.

About

Ulrike Flader

Ulrike Flader is senior lecturer at the Department of Anthropology and Cultural Research and member of the Soft Authoritarianisms Research Group led by University Bremen Excellence Chair Prof. Dr. Shalini Randeria.

Çetin Gürer

Çetin Gürer is a social and political scientist and associate fellow at the InIIS, University of Bremen. His work focuses on peace and conflict studies, pluralism and autonomy models, the Kurdish question and Turkish politics and society. He received his doctorate from Ankara University with a thesis on the resolution of the Kurdish conflict in Turkey and regularly publishes as a commentator on current issues in Turkey.