Wahlen, Tak­tiken und Gewalt – Erdoğans soft-autoritäres Regime angesichts der aktuellen Entwick­lun­gen (Teil I)

Angesichts der jüng­sten Ver­haf­tungswelle gegen Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­er der größten Oppo­si­tion­spartei CHP ein­schließlich dem berühmten Ober­bürg­er­meis­ter Ekrem Imamoğlu und die darauf­fol­gen­den Massendemon­stra­tio­nen im ganzen Land, wird in der Türkei die Frage, ob das Regime Erdoğans nun von einem kom­pet­i­tiv­en in einen voll­ständi­gen Autori­taris­mus umschlägt, heiß disku­tiert. Bis­lang kon­nte die CHP mit ihrem Vor­sitzen­der Özgür Özel die Proteste erfol­gre­ich organ­isieren. Die Dro­hung Präsi­dent Erdoğans, die Stadtver­wal­tung Istan­buls und die CHP selb­st unter Zwangsver­wal­tung zu stellen, kon­nten sie erfol­gre­ich abwen­den. Eine Freilas­sung ihrer wichti­gen Vertreter zu erre­ichen, ist ihnen aber nicht gelun­gen. Zunehmend ist davon die Rede, dass die Wahlen in Zukun­ft abgeschafft wer­den kön­nten und Erdoğan dadurch nicht mehr abwählbar ist. Das fol­gende Gespräch mit Ulrike Flad­er gibt zu diesen und ähn­lichen Fra­gen einige Antworten.

Dr. Ulrike Flad­er ist wis­senschaftliche Mitar­bei­t­erin an Insti­tut für Eth­nolo­gie und Kul­tur­wis­senschaften der Uni­ver­sität Bre­men und beobachtet seit vie­len Jahren die poli­tis­chen Entwick­lun­gen in der Türkei als Mit­glied der Forschungs­gruppe „Soft Authoritarianisms“.

Das Inter­view führte Dr. Çetin Gür­er, Sozial- und Poli­tik­wis­senschafter und Assozi­iert­er am InI­IS, Uni­ver­sität Bre­men. Seine Arbeitss­chw­er­punk­te liegen im Bere­ich der Kon­flikt- und Friedens­forschung, Plu­ral­is­mus und Autonomiemod­ellen, die Kur­dis­che Frage sowie Poli­tik und Gesellschaft der Türkei. Er pro­movierte mit ein­er Arbeit zur Lösung des Kur­dis­chen Kon­flik­ts in der Türkei an der Uni­ver­sität Ankara und pub­liziert als Kom­men­ta­tor regelmäßig zu aktuellen Fra­gen in der Türkei.

Die Abwählbarkeit Erdoğans ist eine Fiktion

Dr. Çetin Gür­er: Wir möcht­en heute über das autoritäre Regime Erdoğans und die jüng­sten Entwick­lun­gen in der Türkei sprechen. Der Ober­bürg­er­meis­ter von Istan­bul, Ekrem Imamoğlu, wurde ver­haftet und viele Beobachter nun behaupten, dass das Regime Erdoğans dadurch von einem kom­pet­i­tiv­en zu einem voll­ständi­gen Autori­taris­mus überge­ht. Stimmt dies Dein­er Mei­n­ung nach? Kann man jet­zt schon von einem voll­ständi­gen Autori­taris­mus in der Türkei sprechen?

Dr. Ulrike Flad­er: Das kann man jet­zt noch nicht ganz sagen. Es wird sich noch zeigen. Denn jed­er Autori­taris­mus kann sich natür­lich noch ver­schär­fen und es gibt keinen Grund, warum Erdoğan ganz davon befre­it wäre, zu einem vol­lkomme­nen Dik­ta­tor sozusagen zu wer­den. Aber meinen Beobach­tun­gen zufolge geschieht ger­ade das, was wir jet­zt beobacht­en, tat­säch­lich wieder nur, weil er sich die Wahlen sich­ern will. Das spricht eher dafür, dass alles, was er momen­tan tut, immer noch ein Tak­tieren ist inner­halb das, was wir – als Forschungs­gruppe – Soft Author­i­tar­i­an­ism, also ‚san­ften‘ Autori­taris­mus, nen­nen. Das heißt nicht, dass es kein Autori­taris­mus ist. Der Regierungsstil Erdoğans ist schon seit ein­er ganze Weile Autori­taris­mus, aber ‚soft‘ Autori­taris­mus ist eben eine spez­i­fis­che Form von Autoritarismus. 

Çetin Gür­er: Kannst Du das biss­chen mehr erläutern? Wieso meinst Du, es ist schon eine ganze Weile Autori­taris­mus gewe­sen? Heißt das, die Ver­haf­tung Imamoğlus ist keine neue Entwicklung?

Ulrike Flad­er: Wir haben ja let­ztens darüber gesprochen, dass die CHP jet­zt argu­men­tiert, dass nun endgültig klar ist, dass man Erdoğan nicht mehr abwählen kann; also, dass das Erdoğan-Regime nicht durch Wahlen been­det wer­den kann. Mein­er Mei­n­ung nach ist dies aber schon die ganze Zeit klar gewe­sen, also seit den Wahlen im Juni 2015, in denen die HDP, d.h. die kur­disch-linke Partei, etwa 13% der Stim­men gewann und dadurch Erdoğan die Mehrheit ver­lor. Da hat Erdoğan zum ersten Mal genau diesen tak­tis­chen Schritt gemacht hat, die Wahlen nicht anzuerken­nen und Neuwahlen aus­gerufen, und in der Zwis­chen­zeit den Krieg gegen die Kur­den ange­facht, so dass die Ultra-Recht­en mit ihm Koalieren, was sie vorher nicht wollen.

Also das war ja schon ein autoritär­er Schritt und zeigte eigentlich damals schon, dass Erdoğan alles tun wird, um seine Macht zu erhal­ten und dass er nicht ein­fach abwählbar ist und durch Wahlen geht. Und ich glaube, das hat sich eigentlich momen­tan auch nicht geän­dert, auch wenn die CHP die let­zten Jahre immer gehofft hat, dass sie ihn per Wahlen abwählen kön­nen. Mein­er Mei­n­ung nach war das schon die ganze Zeit eine Fik­tion und genau damit spielt in dieses soft autoritäre Regime.

Dieses Regime funk­tion­iert eben genau dadurch, dass durch die Wahlen eine Fik­tion der Abwählbarkeit aufrechter­hal­ten wird. Es gehört zu meinem Ver­ständ­nis von soft Autori­taris­mus dazu, dass die CHP die ganze Zeit geglaubt hat, dass sie tat­säch­lich durch Wahlen irgend­wann drankom­men werden.

Çetin Gür­er: Aber es war nicht nur die CHP, auch andere Oppo­si­tionelle haben auch immer daran geglaubt, dass Erdoğan durch Wahlen abgewählt wer­den könnte.

Ulrike Flad­er: Natür­lich wer­den Wahlen auch noch von Oppo­si­tion­sparteien gewon­nen, wie im Fall der Kom­mu­nal­wahlen in vie­len Orten geschehen, wo z.B. in Istan­bul mit Ekrem Imamoğlu und in Ankara mit Mansur Yavas Kan­di­dat­en der CHP gewählt wur­den oder in vie­len Städten und Gemein­den in den Kur­dis­chen Gebi­eten. Ger­ade weil in so einem Regime die Wahlen noch aufrecht gehal­ten wer­den, bleibt para­dox­er­weise immer eine winzige Möglichkeit der Abwählbarkeit. Es ist nie total aus­geschlossen – eben deshalb kein Total­i­taris­mus. Nur lässt sich daraus nicht ein­fach schließen, dass das Regime ins­ge­samt tat­säch­lich per Wahlen been­det wer­den kann. Das ist ein Schein. Da gehört mehr dazu als nur Wahlen. Son­st kön­nte man auch immer noch von ein­er illib­eralen oder schlecht-funk­tion­ieren­den Demokratie sprechen – da gibt es auch viele ver­schiedene Definition.

Çetin Gür­er: Jet­zt ver­ste­he ich Dich also so, dass die Fes­t­nahme von Imamoğlus in dem Sinne keine Wende oder keinen Über­gang zu einem voll­ständi­gen Autori­taris­mus bedeutet. Erdoğan bleibt immer noch beim soft­en oder kom­pet­i­tiv­en Autori­taris­mus. Das ist weit­er­hin der Charak­terzug von seinem Regime. Ist das richtig?

Ulrike Flad­er: Genau. Lev­it­sky & Way for­mulieren meines Eracht­ens – wenn sie von kom­pet­i­tiv­en Autori­taris­mus sprechen –  dass „the play­ing field“ zwis­chen Oppo­si­tion und Regierungspartei sowieso „uneven“ ist.

Çetin Gür­er: Was ist damit gemeint?

Ulrike Flad­er: Also, dass das Feld, in dem die Parteien um die Macht konkur­ri­eren, ungle­ich ist. Das macht es sehr schw­er, dass das der Machthaber abgewählt wer­den kann. Sie beschreiben die vielfälti­gen Mit­tel, mit denen die oppo­si­tionellen Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­er behin­dert wer­den, dazu zählen Inhaftierun­gen, sie ins Exil treiben, sog­ar Mord.

Aber worauf ich hin­aus­wollte ist, dass ger­ade in der Forschung, die ich betreibe, für mich von Anfang an diese affek­tive Ebene auch zen­tral ist. Ich bin ja Anthro­polo­gin. Mich inter­essiert vielle­icht etwas anderes als Politolog:innen. Wir guck­en uns natür­lich auch die poli­tis­chen und legalen Prak­tiken an. Aber für mich war immer inter­es­sant auch wie ger­ade Oppo­si­tionelle in der Türkei reagieren und da war seit Jahren ganz ein­deutig ein Wech­sel­spiel zwis­chen Apathie und Hoff­nung zu erken­nen. Man hat richtig gese­hen, dass jedes Mal, wenn es Wahlen gab, Men­schen – egal wie überzeugt sie davon waren, dass es gar keine Demokratie in der Türkei gibt – haben den­noch dafür gear­beit­et, dass sie die Wahlen gewin­nen. Das hat auf eine Art und Weise mit ihren Gefühlen gespielt. Das ist sehr klug. Ein Regime, was es schafft dich irgend­wie in einem solchen Modus zu hal­ten, dass du – obwohl du denkst alles so schlecht – trotz­dem zur Wahl gehst oder Dich in den Wahlen engagierst und Hoff­nung hast, aber es eigentlich nur eine Fik­tion ist. Dieses Spiel mit deinen Gefühlen ist Teil dieses Regimes, mein­er Mei­n­ung nach.

Çetin Gür­er: Diese Hoff­nung zu schaf­fen ist auch eine Tak­tik oder Strate­gie von Erdoğans Regime. Dass viele trotz allem daran glauben wollen, dass die Demokratie, Wahlen und demokratis­che Instanzen so einiger Maßen funk­tion­ieren, ist eine Fiktion.

Auch wenn man erken­nt was für eine autoritäre Sit­u­a­tion das ist, zieht es einen hinein, weil es ein Ver­sprechen auf eine Chance zur Verän­derung ist. Diese Möglichkeit kannst du nicht ein­fach so überge­hen. Als Oppositionelle:r musst du diese Chance ergreifen, auch wenn sie noch so klein ist”

Ulrike Flad­er: Richtig. Ich würde fast sagen, dass wenn total klar wäre, dass nichts mehr möglich wäre, dann wür­den die Men­schen ja andere Gegen­strate­gien wählen, wür­den andere Wider­stands­for­men find­en. Aus der Per­spek­tive der Macht gese­hen ist es total schlau. Das ist eine Art von Man­age­ment. So, nenne ich das auch: ein Man­age­ment der Oppo­si­tion. Ich weiß, dass die Men­schen das sog­ar alles erken­nen und trotz­dem hat das so eine Macht über einem, weil diese Hoff­nung, dass es poten­ziell möglich wäre, das Regime zu ändern, so machtvoll ist – auch wenn man noch so reflek­tiert ist. Auch wenn man erken­nt was für eine autoritäre Sit­u­a­tion das ist, zieht es einen hinein, weil es ein Ver­sprechen auf eine Chance ist. Diese Möglichkeit kannst du nicht ein­fach so überge­hen. Als Oppositionelle:r musst du diese Chance ergreifen, auch wenn sie noch so klein ist und Erdoğan vielle­icht doch am Ende einen anderen Ausweg find­et. Darüber kann man natür­lich noch viel reden, aber zurück zu dein­er Frage, ob Erdoğan jet­zt zu ein­er voll­ständi­gen Autokratie übergeht.

Es kann natür­lich sein. Es gibt bes­timmte Anze­ichen dafür, dass Erdoğan am Ende seines Tak­tik­tieres ist. Ein soft autoritäres Regime muss bes­timmte Spiel­räume zum Tak­tik­tieren haben, um dem Autokrat­en den Gewinn der Wahlen sich­ern kön­nen. Wir haben in den ver­gan­genen Jahren immer wieder gese­hen, dass Erdoğan tak­tiert. Es gibt kein totales Ver­bot von Parteien. Es gibt kein totales Ver­bot von Medi­en. Stattdessen gibt es immer so ein Tak­tik­tieren, wie jet­zt zum Beispiel: ein Sende­ver­bot für bes­timmte Kanäle für 2 Wochen oder 10 Tage. Das ist aus mein­er Sicht ein sehr typ­is­ches Beispiel von dieser neuen Form von Autori­taris­mus – von mir aus kön­nen wir auch disku­tieren ob es vielle­icht auch faschis­tis­che Ele­mente hat. Aber ich denke noch ist Autori­taris­mus der bessere Begriff.

Dieses kurzzeit­ig machen und zurück­nehmen, dieses Hin-und-Her, kann aus mein­er Sicht – das ist der Punkt, den ich vorhin machen wollte – diese Art zu regieren viel lan­glebiger und nach­haltiger machen, als vielle­icht ein voll­ständi­ger Autoritarismus.

Lieber ‚soft­er‘ Autokrat als Diktator

Çetin Gür­er: Früher hat­te Erdoğan mehr als 50% der Bevölkerung hin­ter sich. Aber jet­zt kann er sich nicht mehr sich­er sein, die Wahlen zu gewin­nen. Tickt ein Min­der­heit­en-Autori­taris­mus vielle­icht anders als ein Mehrheit­sautori­taris­mus? Kön­nte es sein, dass er als ein Min­der­heit­sautokrat die Wahlen nicht mehr stat­tfind­en lässt.

Ulrike Flad­er: Das ist der Grund warum ich sage, es gibt bes­timmte Anze­ichen. Eines davon ist, ob er über­haupt noch Spiel­räume zum Tak­tieren bei den Wahlen hat. Weil – egal ob man von kom­pet­i­tiv­en  Autori­taris­mus spricht oder einen anderen Begriff ver­wen­det – Wahlen sind immer noch zen­tral. Auch Erdoğan muss irgend­wie noch halb­wegs plau­si­bel zeigen kön­nen, dass er die Mehrheit hat. Aber dafür muss der Autokrat noch tak­tieren können.

Das ist jet­zt genau die Frage: was kann Erdoğan jet­zt noch machen? Er hat bere­its an den Wahlbezirken gefeilt. Er hat den Ober­sten Wahlrat (Yük­sek Seçim Kuru­lu) unter Druck geset­zt. Er kann natür­lich noch ein biss­chen Wahlma­nip­u­la­tion machen. Er kann vor den Wahlen alle Pressekanäle für sich dominieren, wie er es immer gemacht hat. Er kann das Mil­itär in bes­timmten Prov­inzen raus­fahren, so dass die Men­schen daran gehin­dert wer­den an den Wahlen teilzunehmen. Er kann Gewalt ein­set­zen. Aber irgend­wann ist auch da eine Gren­ze. Irgend­wann reichen diese Mit­tel nicht mehr, Mehrheit­en zu erzeugen.

Bei den let­zten Wahlen, zum Beispiel, kon­nte er sich noch hin­stellen und sagen, es ist ein „Fest der Demokratie“ (Demokrasi Şöleni). Warum kon­nte er das sagen? Es ist natür­lich inter­es­sant, dass er das sagt. Aber hier ist noch wichtiger, dass er es noch sagen kann. Weil es am Ende wirk­lich so aus­sah als ob er ganz demokratisch gewon­nen hatte.

Das Hin-und-Her, Maß­nah­men durchzuführen und sie wieder zurück­nehmen, macht diese Art zu regieren viel lan­glebiger und nach­haltiger

Und jet­zt um auf deine Frage zurück zu kom­men: wenn er keine Spiel­räume mehr für diese Manip­u­la­tio­nen hat, dann muss er irgend­wann aufhören diese Wahlen stat­tfind­en zu lassen. Aber mein­er Mei­n­ung nach gibt es da immer noch ein paar Stufen, bevor er die Wahlen ganz abschafft und endgültig zu ein­er Dik­tatur überge­ht. Ich meine die Hür­den dafür sind für Erdoğan immer noch rel­a­tiv hoch: Die Türkei ist immer noch in die glob­alen Welt­ge­mein­schaft einge­bun­den, ist NATO-Mit­glied, hat Beziehun­gen zur EU und so weit­er. Also da gibt es sehr viele Hür­den, warum er lieber ein ‚soft‘ Autokrat bleiben würde als totaler Dik­ta­tor. Aber was ich mir vorstellen kön­nte, ist zum Beispiel dass die Gewalt zunimmt und dass er einen Auf­nah­mezu­s­tand aus­rufen kön­nte oder er nochmal solche Tak­tiken auf­fährt wie die Wahlen vorziehen oder vorüberge­hend aus­set­zen, oder – vielle­icht sprechen wir gle­ich nochmal drüber – die Möglichkeit­en auss­chöpft, die sich jet­zt aus ein­er erneuten Annäherung mit den Kur­den ergeben.

Einen Punkt würde ich gerne noch ergänzen, der in eine neue Rich­tung führt, aber auch ein Argu­ment dafür ist, dass es sich mein­er Mei­n­ung nach momen­tan noch nicht um Über­gang zu einem voll­ständi­gen Autori­taris­mus han­delt. Es ist näm­lich sehr inter­es­sant, dass Erdoğan momen­tan ger­ade bei der CHP und ihren Anhängern eine andere Poli­tik fährt und par­al­lel mit den Kur­den Friedens­ge­spräche führt und er poten­ziell in diese Rich­tung irgendwelche demokratis­chen Schritte unternehmen kön­nte – auch wenn es im Moment noch nicht wirk­lich danach aussieht. Dadurch gibt es wieder eine Hin­tertür für ihn, wodurch er wieder keinen total­isieren­den Schritt macht, son­dern sich gegenüber den unter­schiedlichen Bevölkerung­steilen anders ver­hält und dadurch immer noch ein Ele­ment an Pseu­do­demokratie hält.

Soft Author­i­tar­i­an­ism: Ein Listiges Regieren mit Widersprüchen

Cetin Gür­er: Magst Du nun Euer Konzept von Soft Author­i­tar­i­an­ism nochmal mehr erläutern?

Ulrike Flad­er: Ja, ich habe es schon etwas angedeutet. Erst­mal ist soft autoritär ja ein wider­sprüch­lich­er Begriff. Da fragt man sich sofort wie kann Autori­taris­mus über­haupt soft sein? Es ist wie ein Wider­spruch in sich. Und das ist ger­ade was wir ver­suchen aufzuzeigen. Erst­mal han­delt es sich bei soft Autori­taris­mus um eine hybride Regierungs­form. Das heißt, es sieht immer noch formell aus wie eine Demokratie, ist aber ganz klar Autori­taris­mus. Um das nochmal zu unter­stre­ichen: wir sagen eben nicht, dass es eine illib­erale Demokratie ist oder sowas ähn­lich­es. Wir hal­ten nicht an dem Demokratiebe­griff fest, son­dern benen­nen es ganz klar als autoritär. Zweit­ens ist wichtig, dass ‘soft’ auf gar keinen Fall heißen soll, dass es keine Gewalt gibt. Das ist eine der Haupt­fra­gen, die aufkom­men. Der Begriff soll tat­säch­lich etwas ‘pro­voka­tiv’ sein oder bess­er gesagt, zum Nach­denken anre­gen. Ger­ade wenn man sich mit der Türkei beschäftigt, und als eine Per­son, die sich lange mit der Gewalt­geschichte gegenüber den Kur­den auseinan­derge­set­zt hat, wäre es völ­lig absurd die Gewalt­för­migkeit dieser Regierung – mit den Aus­gangsper­ren und Kämpfen in 2015, den Inhaftierun­gen kur­dis­ch­er Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­er und den Bom­bardierun­gen von Nor­dost­syrien – zu leug­nen. Ich würde sog­ar behaupten, dass das Anfacht­en der Gewalt gegenüber den Kur­den nach der ver­lore­nen Wahl von 2015 eine ganz zen­trale Bedeu­tung in der autoritären Trans­for­ma­tion hat­te. Und das war pure, ganz bru­tale Gewalt. Von daher: ‚soft‘ soll auf gar keinen Fall gewalt­frei bedeuten. Der Begriff abzielt vielmehr auf die Flex­i­bil­ität dieser staatlichen Prak­tiken ab, auf das Tak­tiken, das Spie­len, auch das Arbeit­en mit Wider­sprüchen, die immer wieder täuschen und die Anfänge nicht leicht erkennbar machen.

„Der Begriff zielt vielmehr auf die Flex­i­bil­ität dieser staatlichen Prak­tiken ab, auf das Tak­tiken, das Spie­len, auch das Arbeit­en mit Wider­sprüchen, die immer wieder täuschen und die Anfänge nicht leicht erkennbar machen.“ 

Es gibt sehr viele Beispiele, woran man erken­nen kann, dass die Regierung irgend­was Autoritäres macht was aber gle­ichzeit­ig wie eine demokratis­che oder herkömm­liche legale Regelung daherkommt. Nicht ohne Grund benötigt man legale Vor­wände, wie die Imamoğlu vorge­wor­fene Verun­treu­ung von Geldern, als Grund die poli­tis­chen Geg­n­er hin­ter Git­ter zu bekom­men. Oder Steuer­regelun­gen, um die Arbeit von kri­tis­chen NGOs zu erschw­eren. Ich nehme auch immer gerne das Beispiel der OHAL-Kom­mis­sion (Kom­mis­sion zur Prü­fung der Dekrete im Aus­nah­mezu­s­tand), weil diese Kom­mis­sion ganz offiziell ein Mit­tel war, um den Weg zu einem Gerichtsver­fahren wieder zu eröff­nen. Die Per­so­n­en, die per Dekret ent­lassen wor­den waren, hat­ten näm­lich keine Möglichkeit, Wider­spruch inner­halb des Jus­tizsys­tems einzule­gen, weil ihre Fälle dort nicht behan­delt wur­den. Daraufhin hat sog­ar das Europäis­che Gericht für Men­schen­rechte, der Türkei aufge­tra­gen eine Lösung zu find­en, die daraufhin diese Kom­mis­sion gegrün­det. Die Kom­mis­sion öffnete para­dox­er­weise den Weg zu Gerechtigkeit, während sie gle­ichzeit­ig ein autoritäres Machtin­stru­ment war, weil sie gar keine unab­hängige Über­prü­fung der Fälle gewährleis­ten sollte und weil die Men­schen durch dieses Ver­fahren zum Teil acht oder mehr Jahre in Wartepo­si­tion gehal­ten wur­den. Dieses Dop­pel­spiel – das ist beze­ich­nend für dieses Regime. Es arbeit­et absichtlich, man kön­nte sagen auf listige Weise, mit dem inhärenten Wider­spruch. Und das ist deshalb so inter­es­sant, weil es näm­lich bedeutet, dass es demzu­folge gar keinen Sinn macht, Wider­sprüche aufzudeck­en. Aus ein­er marx­is­tis­chen Lesart her­aus entste­ht ja Wider­stand aus der Erken­nung und dem Aufzeigen von Widersprüchen.

Çetin Gür­er: Und das funk­tion­iert gar nicht mehr.

Ulrike Flad­er: Genau. Auch wenn man sich Trump anguckt und diese ganz Post-Truth Debat­te. Eigentlich ist es nicht nur ein pop­ulis­tis­ches Ele­ment, dass es nicht mehr oder nur schw­er möglich ist post­fak­tis­chen Argu­mente anzufecht­en, son­dern es gilt für die gesamte Regierungsweise. Diese Form von soft autoritär­er Regierung funk­tion­iert die ganze Zeit damit, dass es die Wider­sprüch­lichkeit­en in sich vere­int, so dass du nicht auf sie zeigen kannst und dann bricht das Sys­tem zusammen.

Çetin Gür­er: Das heißt die Wider­sprüche gehören dann zu der Logik dieser Art der Regierung. Sie dienen Erdoğan, sich selb­st an der Macht zu hal­ten. Er muss sich selb­st nicht für sie recht­fer­ti­gen. Die Haupt­sache ist, dass es Wider­sprüche sind, die man nicht mehr mit nor­maler Ver­nun­ft und Logik lösen kann. Viele Wider­sprüche machen dieses Regime nicht funk­tion­sun­fähig, son­dern ganz im Gegenteil.

Ulrike Flad­er: Ja. Üblicher­weise würde man denken, dass Autori­taris­mus eigentlich “gradlin­ig” sein müsste. Zumin­d­est ver­weisen viele Men­schen noch immer verärg­ert darauf, dass Erdoğan sich hier oder da wider­sprochen hat. Und dass obwohl sehr viele Men­schen genau wis­sen, was ich hier beschreibe, wenn sie im All­t­ag davon sprechen “aklımı­zla oynuy­or” [Er spielt mit unser­er Ver­nun­ft]. Das habe ich wirk­lich von sehr vie­len ver­schiede­nen Men­schen gehört. Es kommt den Men­schen vor wie eine schiere Ver­rück­theit, Mad­ness. Aber diese Mad­ness hat Meth­ode. Diese Meth­ode gehört mein­er Mei­n­ung nach zu diesem Regierungsstil. Ich würde aber jet­zt nicht sagen, je mehr Wider­sprüche, desto besser.

Çetin Gür­er: Aber es ist ihm egal, also ob das Regierung­shan­deln wider­sprüch­lich erscheint oder nicht, weil er sich nicht dafür recht­fer­ti­gen muss, bzw. er gar nicht das Ziel hat, poli­tisch kor­rekt zu sein.

Ulrike Flad­er: Für mich ist es sog­ar etwas zweitrangig mit welchem Bewusst­sein dies einge­set­zt wird. Hier ist erst­mal wichtig, dass Regierung­sprak­tiken mit dieser Gle­ichzeit­igkeit von Wider­sprüch­lichem arbeiten.

Çetin Gür­er: Beispiel­sweise führen sie einen Lösung­sprozess mit Kur­den, während sie die demokratisch gewählten kur­dis­chen Bürg­er­meis­ter abset­zen. All das passiert gleichzeitig.

Ulrike Flad­er: Zum Beispiel. Allein ein autoritäres Regime, was nach außen hin als Demokratie gibt, ist ja schon ein Wider­spruch in sich. Aber auch auf der kleinen Ebene sieht man immer wieder, wie genau dies gemacht wird. Immer sieht eine Maß­nahme oder Prozess vorder­gründig irgend­wie demokratisch aus, ist aber tat­säch­lich autoritär. Ein bekan­ntes Beispiel ist auch wie die let­zte Regierung in Polen das Rentenal­ter von Richtern run­terge­set­zt hat, um die vakan­ten Posi­tio­nen mit partei-loyalen Richtern zu beset­zen. Oder erin­nern wir uns wie die Ver­fas­sung in der Türkei zulet­zt geän­dert wurde. Darin wur­den die die Befug­nisse des Präsi­den­ten mas­siv aus­geweit­et und die des Par­la­ments eingeschränkt, während gle­ichzeit­ig aber die Zahl der Par­la­mentsab­ge­ord­neten erhöht und die Alter für das pas­sive Wahlrecht her­abge­set­zt wurde. Das sind zwei Schritte, die auf dem ersten Blick erst mal pro-demokratisch erscheinen kön­nen, sind sie aber eben nicht.

Ende des ersten Teils. Hier geht’s zur Fortsetzung.

About

Ulrike Flader

Ulrike Flader is senior lecturer at the Department of Anthropology and Cultural Research and member of the Soft Authoritarianisms Research Group led by University Bremen Excellence Chair Prof. Dr. Shalini Randeria.

Çetin Gürer

Çetin Gürer is a social and political scientist and associate fellow at the InIIS, University of Bremen. His work focuses on peace and conflict studies, pluralism and autonomy models, the Kurdish question and Turkish politics and society. He received his doctorate from Ankara University with a thesis on the resolution of the Kurdish conflict in Turkey and regularly publishes as a commentator on current issues in Turkey.