Zwis­chen Apathie und Hoffnung

Zum „san­ften“ Autori­taris­mus in der Türkei. Die strate­gis­che und flex­i­ble Ver­flech­tung von demokratis­chen und nicht-demokratis­chen Prak­tiken ist ein Charak­terzug ‚san­fter‘ For­men autoritär­er Regierung. Ein Ver­ständ­nis von der Pro­duk­tion von Affek­ten wie Apathie und Hoff­nung in diesem Zusam­men­hang kann uns helfen, ihre Funk­tion­sweise und gesellschaftlichen Effek­te aus ein­er All­t­agsper­spek­tive bess­er zu greifen.

Zum ersten Mal seit Jahren ver­bre­it­et sich momen­tan eine gewisse Hoff­nung in Teilen der Oppo­si­tion: Hoff­nung auf ein Ende der Ära Erdoğan; auf einen Machtwech­sel bei den Par­la­mentsund Präsi­dentschaftswahlen 2023; auf eine Rück­kehr zur par­la­men­tarischen Demokratie. Schlagzeilen über Amtsmiss­brauch und Begün­s­ti­gun­gen im Zusam­men­hang mit regierungsna­hen Vere­inen in Mit­ten der anhal­tenden wirtschaftlichen Krise geben der par­la­men­tarischen Oppo­si­tion einen solchen Aufwind, dass der Vor­sitzende der repub­likanis­chen CHP, Kemal Kılıç­daroğlu, vor Kurzem sog­ar die Beamten auf­forderte, die „Kom­plizen­schaft“ in diesen Machen­schaften zu ver­weigern. Doch kann die Offen­le­gung dieser Skan­dale wirk­lich das Regime zu Fall brin­gen? Ist nicht schon längst bekan­nt, auf welche Weise die Regierung ihr nah­este­hende Unternehmen und Organ­i­sa­tio­nen priv­i­legiert und sich ihre Unter­stützung sichert, und sog­ar mit mafiösen Struk­turen ver­wick­elt ist? Auch wenn die Dimen­sion dieser Machen­schaften so manchen noch empört, wird dies allein sicher­lich nicht reichen, um das Regime ins Wanken zu brin­gen. Denn das Vere­ini­gen von Wider­sprüchen ist charak­ter­is­tisch für diese Form der Regierung.

„San­fter“ Autoritarismus

Crony cap­i­tal­ism ist nur ein Aspekt dieser Art von Regierung, die wir als Bre­mer Forschungs­gruppe um Prof. Dr. Shali­ni Ran­de­ria als soft author­i­tar­i­an beze­ich­nen. Diese Regime sind demokratisch gewählt und ziehen ihre Kraft sog­ar ganz beson­ders aus Wahlen, höhlen jedoch – in strate­gis­ch­er aber „san­fter“ Weise – die demokratis­chen Struk­turen von innen aus. Dafür wird die Ver­fas­sung geän­dert, wie in der Türkei mit dem Ref­er­en­dum von 2017, das den Wech­sel von par­la­men­tarisch­er zur Prä­sidi­aldemokratie besiegelte; das Wahlrecht den eige­nen Inter­essen angepasst – zumeist durch Ger­ry­man­der­ing, d.h. die Änderung der Wahlkreise gemäß den errech­neten Wahlchan­cen, die direk­te Wahlfälschung fast obso­let macht. Auch dies ist in ver­schieden­er Weise in der Türkei geschehen. Außer­dem gehört dazu die Über­nahme oppo­si­tioneller Medi­en zum Teil durch direk­te Schließung und Beschlagnahme ihrer Ein­rich­tun­gen oder durch andere kreative Wege. Allem voran ste­ht jedoch die Umstruk­turierung der legalen Architek­tur des Staates und des Jus­tizwe­sens, um die Unab­hängigkeit zu unterbinden und treue Per­so­n­en in zen­trale Posi­tio­nen zu hieven. Dabei wer­den auch Straftatbestände aus­geweit­et, um poli­tis­che Geg­n­er in Schach zu hal­ten. Darüber hin­aus nutzte die türkische Regierung das ihr durch den gescheit­erten Putschver­such in die Hände gelegte Instru­ment des Aus­nah­mezu­s­tands und der damit ein­herge­hen­den Geset­zge­bung. Obwohl kein Novum – bedenkt man den jahrzehn­te­lan­gen Aus­nah­mezu­s­tand, der über den Putsch von 1980 hin­aus noch bis 2002 in den mehrheitlich kur­dis­chen Gebi­eten ver­hängt wurde – hat­te dieser lan­desweite Aus­nah­mezu­s­tand sehr gravierende Fol­gen für ver­schiedene gesellschaftliche Kräfte. Auch die bere­its ange­laufe­nen Ver­hand­lun­gen für eine friedliche Beendi­gung des Kur­denkon­flik­ts wur­den diesem Kalkül unter­ge­ord­net und stattdessen Krieg und Gewalt als Mit­tel gegen die poli­tis­chen Geg­n­er im Inund Aus­land gewählt.

Listig und Flexibel

Angesichts dieser gewaltvollen Repres­sion mag es ver­wun­dern, dass wir den­noch den Begriff des „san­ften“ Autori­taris­mus ver­wen­den. Als „san­ft“ ver­ste­hen wir hier nicht die Abwe­sen­heit von Repres­sion, son­dern die strate­gis­che Gle­ichzeit­igkeit und Ver­flech­tung von autoritären und demokratis­chen Prak­tiken. In prag­ma­tis­ch­er Weise wer­den schein­bar wider­sprüch­liche Prak­tiken zu ein­er „listi­gen“ Form des Regierens (Ran­de­ria) kom­biniert. John Keane ver­weist dabei darauf, dass diese Regime keine Zwis­chen­sta­di­en von Demokra­tien auf ihrem Weg zu vol­len­de­ten Autokra­tien sind, son­dern als spez­i­fis­che Form der Regierung ver­standen wer­den müssen. Sie zeich­nen sich durch eine „Flex­i­bil­ität“ aus, die im Fall der Türkei es dem Regime ermöglicht, schein­bare „Kursko­r­rek­turen“ vorzunehmen, wie mit der für diesen Dezem­ber angekündigten erneuten Änderung der Ver­fas­sung, die unter anderem die Rechen­schaft­spflicht der Minister:innen gegenüber dem Par­la­ment wieder stärken soll. Revi­sionsver­fahren gehen uner­wartet „pos­i­tiv“ aus und Entschei­dun­gen des Europäis­chen Gericht­shof für Men­schen­rechte wer­den umge­set­zt, wenn es poli­tisch oppor­tun ist. Diese Prak­tiken allein als Ver­schleierung „eigentlich­er“, autoritär­er Inter­essen zu ver­ste­hen, verken­nt die Logik der „san­ft“ autoritären Regierungs­form und unter­schätzt ihre Anpas­sungs­fähigkeit und poten­tielle Langlebigkeit.

Die Werte lib­eraler Demokratie wer­den aus­tauschbar, Wahrheit und Ver­nun­ft ver­lieren ihre ihre Verankerung. 

Listig ist diese Form der Regierung, weil die Architek­tur der Demokratie, die Insti­tu­tio­nen und Prozedere weit­er­hin aufrechter­hal­ten wer­den, aber vom Inhalt völ­lig entleert wer­den. Dies ermöglicht der Regierung sich völ­lig selb­stver­ständlich auf die Rechtsstaatlichkeit zu beziehen, wie Erdoğan selb­st immer wieder tut. Keane nen­nt dies mim­ic­ry of democ­ra­cy. Andrea Pető hinge­gen beschreibt dies als ein „Aus­saugen“ der staatlichen Insti­tu­tio­nen, welche nur noch als oppor­tu­ni­ty struc­tures behan­delt wer­den, um für das eigene Klien­tel Ressourcen abzuzweigen und Macht­po­si­tio­nen zu sich­ern. Dabei wer­den sie als leere Hüllen zurück­ge­lassen, was ihr zufolge zu einem Ver­fall demokratis­ch­er Ide­ale, Nor­men und Prozesse führt, oder wie es Wendy Brown for­muliert, die Werte lib­eraler Demokratie „aus­tauschbar“ wer­den lässt und Wahrheit und Ver­nun­ft „ihre Ver­ankerung“ ver­lieren. Bei­den geht es darum, dass es sich um Prak­tiken han­delt, die den vorhan­de­nen Struk­turen ihren eigentlichen demokratis­chen Kern oder Wesen entziehen. Die Hülle bleibt; der Kern ist fort.

Pro­duk­tion von Apathie muss als affek­tives Man­age­ment der Oppo­si­tion ver­standen werden.

Was bedeutet es aber, wenn die demokratis­che Architek­tur nicht nur als Gerüst eines Prozed­eres ver­standen wird, son­dern auch für ein Ver­sprechen ste­ht, das immer wieder angerufen wer­den kann und sog­ar von der Oppo­si­tion angerufen wer­den muss, ger­ade dann, wenn alle anderen Wege öffentlich­er Auseinan­der­set­zung versper­rt sind? Dieser Wider­spruch zwis­chen dem Vorhan­den­sein ein­er demokratis­chen Architek­tur und der gle­ichzeit­i­gen Entleerung von ihrem Inhalt hat weitre­ichende Auswirkun­gen auf die Oppo­si­tion und die lebendi­ge Zivilge­sellschaft, die in der Türkei existiert(e). Unter anderem scheint er – so meine vor­läu­fige These –, eine Form der Apathie zu pro­duzieren, die die Ent­fal­tung gesellschaftlich­er Oppo­si­tion und Kri­tik in ein­er Weise behin­dert, die über direk­te Repres­sion hin­aus­ge­ht. Bere­its Juan Linz betont, dass Autori­taris­mus, anders als Total­i­taris­mus, nicht auf ein­er enthu­si­astis­chen Teil­nahme der Bevölkerung auf­baut, son­dern Apathie pro­duziert. Apathie ver­ste­he ich nicht im Sinne von Poli­tikver­drossen­heit und Desin­ter­esse, son­dern als einen durch Regierung­sprak­tiken aktiv pro­duzierten affek­tiv­en Zus­tand, der Hand­lung­sun­fähigkeit sug­geriert. So sprechen meine Interviewpartner:innen von Gefühlen der „Lethargie“ (bezgin­lik) und Erschöp­fung (bitkin­lik). Andere bericht­en von ein­er Ermü­dung durch die ständi­ge Beschäf­ti­gung mit schein­bar sinnlosen Maß­nah­men und Äußerun­gen der Regierung. Pro­duziert wer­den diese affek­tiv­en Zustände durch die spez­i­fis­che Willkür und den tox­is­chen Schwe­bezu­s­tand der orchestri­erten Gle­ichzeit­igkeit von Demokratis­chem und Nicht-Demokratis­chem. Sie erschw­eren nicht nur die Fähigkeit, Unrecht auszu­drück­en, son­dern auch es über­haupt erst wahrzunehmen und darauf zu reagieren, und führen so zu ein­er Nor­mal­isierung des Unrechts. In diesem Sinne muss die Pro­duk­tion von Apathie als affek­tives Man­age­ment der Oppo­si­tion ver­standen werden.

Hoff­nung als Kehr­seite der Apathie?

In diesem Zus­tand der Qua­si-Ohn­macht zeigt sich die Hoff­nung nicht nur im Hin­blick auf einen möglichen Machtwech­sel bei den Wahlen, son­dern auch in Speku­la­tio­nen über den geisti­gen und physis­chen Gesund­heit­szu­s­tand des Präsi­den­ten. Das Inter­pretieren seines Ein­nick­ens während Inter­views, sein schlep­pen­des Laufen oder das Able­sen vom Teleprompter sind zum Sinnbild der Hoff­nung gewor­den. Diese hoff­nungsvolle Stim­mung kann sicher­lich der Apathie etwas ent­ge­genset­zen. Den­noch hat die Flex­i­bil­ität des „san­ften“ autoritären Regierungsstils in den ver­gan­genen Jahren schon diverse Krisen­mo­mente zugun­sten Erdoğans aus­ge­hen lassen. Dass für diesen Dezem­ber auch eine Änderung des Wahlrechts und ein Gesetz zu „Desund Miss­in­for­ma­tion in den sozialen Medi­en“ angekündigt wor­den ist, lässt wenig Gutes hof­fen. Unter diesen Bedin­gun­gen erscheint dieses Hof­fen daher nur noch als ein unbes­timmtes Warten und damit als Kehr­seite der Apathie. Die Frage ist jedoch nicht, ob die Hoff­nung real­is­tisch oder utopisch ist. Vielmehr bietet ein Ver­ständ­nis von Affek­ten wie Hoff­nung und Apathie Erken­nt­nisse über die Funk­tion­sund Wirkungsweise dieser „san­ften“ For­men autoritär­er Regierung, die über ihren insti­tu­tionellen Rah­men hinausgehen.

This arti­cle from the IWM Post has been repub­lished with the kind per­mis­sion of the Insti­tute of Human Sci­ences (IWM) in Vienna.

About

Ulrike Flader

Ulrike Flader is senior lecturer at the Department of Anthropology and Cultural Research and member of the Soft Authoritarianisms Research Group led by University Bremen Excellence Chair Prof. Dr. Shalini Randeria.