Ein 37-jähriger Mann wird auf dem elterlichen Hof von der französischen Polizei erschossen, nachdem er sich nach dem gewährten Freigang nicht ins Gefängnis zurückbegeben hatte. Jens Adam rezensiert Didier Fassins neu erschienenes Buch, im dem die Umstände des Todes nachvollzogen und aufgearbeitet werden.
„Eine einfache Geschichte“ – so bezeichnet Didier Fassin die Ereignisse, die den Anlass für sein neues Buch bieten (S. xi): An einem Frühlingstag stürmt eine Eliteeinheit der Gendarmerie ein Grundstück am Rande eines Dorfs im ländlichen Frankreich. Hier, auf dem elterlichen Hof, vermuten sie einen für diverse kleinere Delikte verurteilten jungen Mann, der nach einem richterlich gewährten Freigang nicht ins Gefängnis zurückgekehrt war. Sie durchforsten die Gebäude und Wohnwagen, verwüsten die Einrichtung der Häuser und legen den fünf anwesenden Familienmitgliedern Handschellen an. Der Einsatz kulminiert in der Erschießung des Gesuchten in einem Nebengebäude durch zwei Polizisten.
Der juristische Prozess wird nach einigen Jahren ohne eine Anklage gegen die beiden Polizisten enden.
In der Frage nach den unmittelbaren Umständen dieser Tötung verliert die Geschichte ihre Einfachheit. Gendarmerie und Angehörige geben unterschiedliche, sich wechselseitig ausschließende Berichte von der Ereigniskette zu Protokoll. Die Polizisten sprechen von Notwehr und einer verhältnismäßigen Steigerung der Zwangsmittel, mit denen sie auf die körperlichen Angriffe des in seinem Versteck entdeckten jungen Manns reagierten. Aus Perspektive der Familie fielen die tödlichen Schüsse bereits kurz nachdem die Polizisten den Schuppen betreten hatten – ohne vorangehenden Wortwechsel, Kampf oder Warnungen und ohne vernehmbare Versuche, dem Gesuchten auf andere Weise habhaft zu werden. Bereits wenige Stunden nach den Ereignissen treten Asymmetrien zutage, die die folgende juristische Aufarbeitung prägen werden: Staatsanwaltschaft, lokale Medien und später auch eine polizeiinterne Untersuchungskommission übernehmen weitgehend die Version der Einsatzkräfte; die Erzählung der Angehörigen findet hier kaum Beachtung. Der juristische Prozess wird nach einigen Jahren ohne eine Anklage gegen die beiden Polizisten enden.
Es ist in erster Linie die Schwester des Getöteten, die dieser sukzessiven Durchsetzung einer asymmetrischen „juristischen Wahrheit“ entgegentritt (S. 55ff.). Über Videos verbreitet sie die Beobachtungen und Erfahrungen der Familie im Netz; sie organisiert Protest- und Erinnerungsmärsche; und sie nimmt Kontakt zu anderen Familien mit ähnlichen Geschichten auf. Ein Muster tritt hervor, das die größere gesellschaftliche Relevanz jedes einzelnen Falles verdeutlicht. Die Opfer von Polizeigewalt, zumeist junge Männer, entstammen in aller Regel den sozial schwachen französischen Vorstädten, Einwandererfamilien oder rassifizierten Minderheiten (S. 60ff.). So auch Angelo, der getötete Freigänger, dessen Familie – wenn auch inzwischen selbst sesshaft – einer rechtlich und sozial markierten, vielfältig diskriminierten, landfahrenden Gruppe („gens du voyage“; S. xxii; S. 51ff.) angehört. Im Rahmen ihrer Bemühungen um Unterstützung und Aufmerksamkeit kontaktiert Angelos Schwester den Anthropologen Didier Fassin (S. 1ff.), der in der jüngeren Vergangenheit durch Bücher zur Polizeiarbeit in französischen Banlieus, zur Politik des Strafens in westlichen Demokratien oder zu den gesellschaftlichen Ungleichheiten von „Leben“ hervorgetreten ist.[1] Von der Geschichte und ihren Ungereimtheiten berührt, beginnt Fassin eine „Gegenuntersuchung“ („counter-investigation“; „contre-enquête“).
Ethnografie erscheint hier als ein Modus der kritischen Wissensproduktion, der nicht nur marginalisierten Gruppen Gehör verschafft, sondern aktiv in gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Wahrheit und Gerechtigkeit interveniert.
Das Buch beeindruckt einerseits durch die politische und „ethische Dringlichkeit“ (S. 3) der hier geschilderten Zusammenhänge. Andererseits ist es gerade der programmatisch unterlegte Begriff einer „Gegenuntersuchung“, der nachhaltig in Erinnerung bleibt (S. 3ff.). Nicht zuletzt, da sich über ihn wegweisende Anschlüsse an zeitgenössische Diskussionen zu einer engagierten, eingreifenden und öffentlich sichtbaren Anthropologie herstellen lassen. Ethnografie erscheint hier als ein Modus der kritischen Wissensproduktion, der nicht nur marginalisierten Gruppen Gehör verschafft, sondern aktiv in gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Wahrheit und Gerechtigkeit interveniert.
Der gut lesbare Text ist offensichtlich für ein breiteres Publikum geschrieben und kommt ganz ohne Fußnoten oder Literaturverweise aus. Dennoch knüpft Fassin an theoretische Debatten und die methodische Praxis einer kritischen Sozialwissenschaft an. Dies gilt etwa für seine Auseinandersetzung mit zwei unterschiedlichen, sich in der Regel konzeptionell ausschließenden Umgangsweisen mit „Wahrheit“ (S. xiv ff.): dem – etwa von Pierre Bourdieu vertretenen – Programm der sukzessiven Aufdeckung einer zunächst von den Machtverhältnissen verborgenen Wahrheit einerseits; sowie einem – eher foucauldianisch inspirierten – nüchternen Nachzeichnen „verschiedener Modalitäten von Wahrheit“ (S. xvii) und somit des Auftauchens, der Etablierung und eventuellen Kollision unterschiedlicher Wahrheitsregime andererseits. Fassins Text bewegt sich in diesem Spannungsverhältnis, indem er zunächst unterschiedliche Erzählungen der Geschehnisse gleichberechtigt nebeneinanderstellt, um im Schlussteil doch eine eigene, aus seiner Perspektive plausible Version der Geschehnisse vorzustellen.
Dies geschieht in methodischer Hinsicht durch eine schrittweise Rekonstruktion der Ereignisse auf Basis einer kritischen Analyse aller verfügbaren Materialien. Fassin nimmt für sich in Anspruch, jeder Aussage das gleiche Gewicht zu geben, sich nicht von Vorannahmen einer größeren Glaubwürdigkeit bestimmter Protagonist:innen leiten zu lassen und die vielfältigen Widersprüche, Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten der juristischen Version ins Zentrum seiner Untersuchung zu stellen. Der „juristischen Wahrheit“ des gesprochenen Rechts (S. 95; S. 104f.; S. 123), die den Fall eigentlich zu einem bindenden Abschluss gebracht hat, setzt er eine „ethnografische Wahrheit“ (S. xviii; S. 124) entgegen. Hierzu bringt er ausgeschlossene Alternativen wieder ins Spiel, ordnet Untersuchungsmaterialien neu und verbindet sie mit den Erkenntnissen sozialwissenschaftlicher Studien zu der zunehmenden Militarisierung der Polizei, der Ausdehnung des Strafsystems gegenüber sozial schwächeren Gruppen oder auch zu der Brüchigkeit des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz (S. xiii).
Dieses Ringen um eine „ethnografische Wahrheit“ übersetzt sich in folgende Struktur des Textes. Zunächst stellt Fassin die sich teils wechselseitig ausschließenden Versionen der wichtigsten Protagonist:innen von den Ereignissen in einzelnen Abschnitten vor (S. 11–50) – jeweils so, als könnten sie wahr sein. Erst in einem zweiten Schritt zieht er weitere Materialien – etwa die Berichte der Autopsie oder der ballistischen Untersuchung – hinzu, um die Plausibilität dieser Erzählungen kritisch zu überprüfen. In diesen Textteilen wird also der juristische Prozess selbst – samt seiner Texte, Rationalitäten und Wahrheitsbehauptungen – zum Gegenstand der ethnografischen Untersuchung (S. 77–115). Fassin zeigt hierbei, in welch starkem Umfang die richterliche Begründung, die zur Einstellung des Verfahrens gegen die beiden Polizisten führte, die Widersprüche zwischen den Aussagen unterschiedlicher Polizeiangehöriger sowie zwischen diesen Aussagen, der Autopsie und dem ballistischen Bericht übergeht. Gleichzeitig werden die Bedingungen und Modi der systematischen Nichtbeachtung der alternativen Erzählungen herausgearbeitet. Fassin argumentiert, dass die juristische Wahrheitsfindung auf „Hierarchien der Glaubwürdigkeit“ (S. 93) beruht: Die Aussagen von Polizist:innen einerseits und von Angehörigen marginalisierter oder rassifizierter Minderheiten andererseits unterliegen sehr ungleichen Chancen und Bedingungen als „wahr“ anerkannt zu werden.
Der Tod des jungen Mannes erklärt sich nicht aus einer situativen Dysfunktionalität des französischen Justiz- und Polizeiapparats, sondern verweist vielmehr auf deren normales Funktionieren.
Fassins Gegenuntersuchung beschränkt sich aber nicht auf die Aufdeckung solcher Schwachstellen und Widersprüche innerhalb der „offiziell gemachten“ juristischen Wahrheit. Im letzten Teil des Buches schlägt er eine alternative, in seiner Einschätzung durch die Kombination empirischer Materialien und die explizite Einbeziehung von Ungereimtheiten plausibilisierte Version der Ereigniskette vor, die zu dem Tod Angelos führte und stellt hierdurch die Frage nach Schuld und Verantwortung neu (S. 116ff.). Er revidiert gewissermaßen die „juristische Wahrheit“ auf Basis seiner ethnografischen Forschung und ersetzt das Narrativ von der Notwehr und der verhältnismäßigen Reaktion der Einsatzkräfte auf einen Angriff des Gesuchten. Er vermutet stattdessen eine situative Panik der beiden Polizisten, die zu den tödlichen Schüssen ohne vorherige handgreifliche Auseinandersetzung oder Warnung führte. Fassin beschränkt sich aber nicht auf diese Kritik individuellen Handelns und institutionellen Vertuschens, sondern verweist auf großflächige gesellschaftliche Entwicklungen, die die „Bedingungen der Möglichkeit“ (S. 9) für den tödlichen Verlauf dieser Intervention geschaffen haben. Hier nennt er einerseits die wachsende Selbstverständlichkeit, polizeiliche Elite- und Anti-Terroreinheiten auch für die Verfolgung von Kleinkriminellen und Alltagsdelikten einzusetzen. Andererseits betont er den tiefen gesellschaftlichen Rassismus gegenüber den „gens du voyage“, der maßgeblich dazu beigetragen habe, die übertriebene Form des Einsatzes, die Schüsse und die Ignoranz gegenüber den Aussagen der Familienmitglieder zu plausibilisieren (S. 113f.)
Didier Fassin ist sich darüber im Klaren, dass seine „ethnografische Wahrheit“ nicht die gleiche performative Kraft besitzt wie das „gesprochene Recht“ in einem abgeschlossenen Verfahren. Durch seine Gegenuntersuchung möchte er dennoch in gesellschaftliche Prozesse der Produktion von Wahrheit und Gerechtigkeit intervenieren, vor allem aber dem Getöteten und seiner Familie etwas von ihrer Würde zurückgeben (S. 10). Gleichzeitig zielt sein Text auf eine grundlegendere Kritik: Denn der Tod des jungen Mannes ist für Fassin kein bedauerlicher Einzelfall. Er erklärt sich nicht aus einer situativen Dysfunktionalität des französischen Justiz- und Polizeiapparats, sondern verweist vielmehr auf deren normales Funktionieren (S. xxiiiv).
Anmerkung:
[1] Didier Fassin, Enforcing Order. An Ethnography of Urban Policing, Cambridge 2011; Didier Fassin, Der Wille zum Strafen, Berlin 2018; Didier Fassin, Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung, Berlin 2017.